#Optimismwins

Rückblicken kann jeder, vorausblicken ist was für Profis: Der Zukunftsexperte Cornelius W. M. Oettle weiß dank Künstlicher Intelligenz und einer Kanne Kaffeesatz, was das Jahr 2023 bereithält

Die gute Nachricht vorweg: Deutschland bleibt dank einer letzten großen diplomatischen Anstrengung Gerhard Schröders vom Atomkrieg verschont. Die Bundesrepublik hatte den Altkanzler im vergangenen Jahr geschlossen zum Oberverräter erklärt, doch im neuen kommt’s zur Reputationsresurrektion, ehe er sich in einem Instagram-Live-Video von seiner Frau trennt und sich hernach für immer aus der Öffentlichkeit zurückzieht.

Überdies stimmen die Nato-Länder bei einer Geheimsitzung mit der vom Rücktritt zurückgetretenen Verteidigungsministerin Lambrecht darin überein, dass der denkbar wertvollste militärstrategische Beitrag der Bundeswehr wohl das Nichtstun sei. Ein historisches Novum: Deutschland ist zum ersten Mal nicht in einen Weltkrieg involviert. Im ZDF-Politbarometer rückt Lambrecht damit vor auf Platz eins der beliebtesten Politiker/innen.

Einzig Anton Hofreiter, der nicht nur sämtliche Waffengattungen, sondern dank des Besuchs eines Bootcamps über die Feiertage nun auch verschiedene Nahkampftechniken beherrscht, schließt sich aus Fassungslosigkeit über die deutsche Zurückhaltung der Internationalen Legion der Territorialverteidigung der Ukraine an und meldet das ganze Jahr lang regelmäßig erstaunliche Erfolge von der Front. Der Rest der Republik hingegen hat endlich einmal Zeit, sich um die eigenen Probleme zu kümmern.

Etwa um die grassierende Arbeitslosigkeit: Da ihnen die CDU eingetrichtert hat, niemand müsse dank des Bürgergelds noch ackern, kündigen Millionen Menschen im Laufe des ersten Quartals ihren Job.

Erst nach einigen Monaten dämmert dem Gros, dass 500 Euro wohl doch zu wenig und die erstatteten »angemessenen Wohnkosten« gar nicht so angemessen sind. Für die deutschen Unternehmen kommt dieser Sinneswandel zu spät. Das Resultat ist jene rasante Deindustrialisierung, vor der Yasmin Fahimi noch zwei Tage vor Silvester gewarnt hat.

Übel war der Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes die Forderung aufgestoßen, staatliche Hilfen für Konzerne an die Aussetzung von Dividendenzahlungen zu binden. Mit den Worten: »Jetzt ist nicht die Zeit für kapitalismuskritische Grundsatzdebatten, sondern für effektives Handeln in der Realität«, sollte sie sich indes verraten haben – Mitte Februar deckt ein Recherchenetzwerk aus »Taz«, RTL Nitro und »Nuhr im Ersten« auf: Fahimi ist ein trojanisches Pferd des Bundesverbands der deutschen Industrie. Den Posten übernimmt kommissarisch Sigmar Gabriel.

Fahimi wechselt in den Aufsichtsrat von Siemens, das seinen Hauptsitz wie die meisten deutschen Unternehmen in die USA verlegt hat. Die ehemaligen DAX-Mitglieder werden in den S&P 500 integriert, der sodann um 28 Prozent einbricht. China kauft die Deutsche Telekom.

Durch eben jene Deindustrialisierung gerät Mitte des Jahres ein Gerücht in Umlauf: Angeblich sinniere EU-Kommissionspräsident Laschet (Ursula von der Leyen war aufgeflogen, als sie Katar den Status eines EU-Beitrittskandidaten verleihen wollte) über eine späte Realisierung des Morgenthauplans. Die Digitalisierung in Deutschland sei ohnehin schon auf Agrarstaatsniveau, und es mangele der Welt im Zuge des Krieges ja nach wie vor an Weizen.

Der diesjährige Gewinner des jetzt doch wieder Nannen-Preis genannten »Stern«-Preises, Julian Reichelt, kolportiert dazu auf Youtube: Um den neuen Morgenthauplan zu besprechen, habe sich Laschet am Rande der Bilderbergerkonferenz in Lützerath mit den Vertretern der ehemaligen europäischen Siegermächte getroffen, also mit Emmanuel Macron und dem frisch im Doppelamt inthronisierten britischen Premierministerkönig Boris Johnson. China kauft die Deutsche Post.

Während die von Gesundheitsminister Lauterbach befürchtete »Killervariante« des Corona-Virus im Frühjahr der deutschen Krankenhauslandschaft ihren lang erwarteten Coup de grâce verpasst, befeuert Außenministerin Baerbock die bundesweiten Unruhen mit einem an Russland und die Nato gerichteten Friedensangebot in der »Carolin-Kebekus-Show«: Man könne das deutsche Staatsgebiet zur Not auch der Ukraine überschreiben, es sei ihr mittlerweile wirklich egal, was ihre German voters thinken.

Ein gefundenes Fressen für die AfD, die ohnehin bereits politisches Kapital aus dem Berliner Böllerverbot schlagen konnte und seit der Wahlwiederholung in der Bundeshauptstadt den Bürgermeister stellt. Allerdings befindet sich die Partei deshalb im bundesweiten Umfragetief, weil zutage tritt, dass es in Berlin nie an der »linken« Regierung gelegen hatte: Auch die Rechten beißen sich an dieser unberechenbaren Stadt die Zähne aus. Helfen kann nicht einmal das »Gute-Gestapo-Gesetz« von Innenministerin Giffey (AfD).

Um von ihrem Versagen abzulenken, wagen die Rechtspopulisten ein riskantes Manöver: Sie stellen im Bundestag den Antrag auf ein Verbot ihrer eigenen Partei. Und scheitern. Alle anderen Fraktionen lehnen den Antrag ab, um der Kritik, man mache gemeinsame Sache mit der AfD, vorzubeugen. Die wiederum schlachtet die Entscheidung medial aus und stoppt so erfolgreich die demoskopische Negativtendenz: »Was ist das für ein Demokratieverständnis der Altparteien, wenn man sich nicht mal selbst verbieten darf?«, wettert Alice Weidel in der neuen Show »Cancel-Treff« mit Luke Mockridge im WDR. China kauft die Deutsche Wohnen SE.

Indessen reicht Robert Habeck nach einer Nordkorea-Reise seinen Rücktritt ein. Auslöser ist ein Foto, das ihn auf Knien vor Kim Jong-un zeigt. Vergeblich hatte der Wirtschaftsminister den Diktator um neue Brennstäbe für die deutschen Atomkraftwerke angefleht. Die Laufzeit der Reaktoren Isar 2 und Neckarwestheim 2 war der Emsland-Katastrophe zum Trotz durch einen Volksentscheid verlängert worden. Zumindest die Inflation scheint aber unter Kontrolle: Im Sommer geht sie leicht zurück auf moderate 66 Prozent.

Als China innerhalb von fünf Werktagen Taiwan einnimmt und anschließt, verbieten die USA das Videoportal Tiktok. In Deutschland bricht kurz nach Einführung des 49-Euro-Tickets, das schon zum Start 85 Euro kostet, und einer weiteren Sabotage das Netz der Deutschen Bahn endgültig zusammen. In einer Pressemitteilung bekennt sich die Letzte Generation zu dem Cyberangriff: »Ist euch das Bordbistro etwa mehr wert als das Leben?«

Bundeskanzler Scholz deklariert, der Protest sei »nicht richtig zu Ende gedacht«, und reagiert mit einem »Mobilitätsentlastungspaket«: Der »Doppelbrumm« garantiert jedem Haushalt Unterstützung bei der Finanzierung von zwei Kleinwagen. China kauft die deutsche Autobahn GmbH.

Obendrauf packt Scholz den »Quattrowumms«: Der Entwurf umfasst neben der Erstattung von Strom-, Gas-, Kleidungs- und Lebensmittelkosten im Monat September auf Grundlage des Monats März auch durch den Vermieter auszuzahlende Mietzuschüsse für April und Juli, die Übernahme einer mit der Steuererklärung einzureichenden Tankquittung sowie einen einmaligen Urlaubsbonus von 250 Euro (Studenten und Arbeitslose ausgenommen), einlösbar für Reisen zwischen Mai und August.

Leider kommt es nicht zur Verabschiedung des Entwurfs: In einem anspruchsvoll inszenierten Duett mit der als Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht verkleideten Lena Meyer-Landrut zum Abschluss einer Folge des »ZDF Magazin Royale« liefert Jan Böhmermann handfeste Beweise für das Cum-Ex-Vergehen des Kanzlers. Scholz muss abtreten.

Die Neuwahl im September gewinnt die Bewegung »Deutscher Herbst«: Angeführt von Sahra Wagenknecht holt das laut Selbstauskunft sich als »weder links noch rechts« verstehende Bündnis um Boris Palmer, Alice Schwarzer und Wolfgang Kubicki samt den Schwesterparteien Team Todenhöfer und Die Basis satte 37 Prozent und bildet eine Regierungskoalition mit der FDP. Christian Lindner bleibt Finanzminister.

Das Amt des Bundespräsidenten teilen sich Richard David Precht und Harald Welzer. Sie begnadigen Heinrich XIII. Prinz Reuß. Dessen Jagdschloss in Thüringen fungiert dafür als das neue Bellevue. China kauft das Jagdschloss und Bellevue.

Die Linkspartei erringt entgegen den schlechten Umfragewerten einen beachtlichen Stimmenanteil von 0,8 Prozent und schafft es dank dreier Direktmandate von Gregor Gysi wieder in den Bundestag. Janine Wissler ruft die verbliebenen 31 Mitglieder zur Geschlossenheit auf.

Bei der Landtagswahl in Bayern am 8. Oktober erlangt der »Deutsche Herbst« immerhin 20 Prozent und dient sich als Steigbügelhalter für den neuen Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger an. Die CSU rutscht in die Opposition, der thailändische König Maha Vajiralongkorn gewährt Markus Söder Asyl in seiner Villa am Starnberger See.

In den Sozialen Netzwerken findet die Bayernwahl wenig Beachtung, weil zur gleichen Zeit »Hart aber fair« für Aufregung sorgt: Plaßbergs Nachfolger Louis Klamroth diskutiert mit der Gästerunde, bestehend aus seiner Lebensgefährtin Luisa Neubauer, Christian Lindner, dessen Ehefrau Franca Lehfeldt (»Welt«-Politikchefreporterin), Bundestagsalterspräsident Wolfgang Schäuble, dessen Tochter und ARD-Programmdirektorin Christine Strobl sowie deren aus Stuttgart zugeschaltetem Ehemann, dem baden-württembergischem Innenminister Thomas Strobl, über Clankriminalität. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird aufgelöst.

Nur auf Twitter trendet der Hashtag #hartaberfair nicht, weil sowohl Twitter wie auch Elon Musk nicht mehr existieren. Musk, der letztes Jahr Wladimir Putin öffentlich zum Boxkampf herausgefordert hatte, war Anfang des Jahres einer entsprechenden Einladung des russischen Präsidenten gefolgt, daraufhin drei Tage verschwunden und schließlich mit Nowitschok-Spuren in einer Bordtoilette auf einem Flug von Helsinki nach New York gefunden worden. In der darauf folgenden Pressekonferenz gab Sergei Lawrow der Ukraine die Schuld »am Mord, äh, Tod von Elon Musk«, was wiederum zum atomaren Erstschlag der USA führte, begleitet von einem epochemachenden Zitat Joe Bidens: »The killing of Elton John … no, Ellen DeGeneres, äh … Elon … you know, the rich guy, it was too much.«

Kurz vor Weihnachten kursiert schließlich ein Foto, das Anton Hofreiter mit dem Kopf Wladimir Putins zeigt. Die Redaktion von »Mario Barth deckt auf« bestätigt die Echtheit der Aufnahme. Der Krieg endet. Amazon-Gründer Jeff Bezos kehrt von seiner einjährigen Raumkreuzfahrt mit 50 Prostituierten zurück. Nach der Landung postet er die Worte »War was?« – das deutsch-englische Wortspiel ist der meistgelikte Mastodon-Tröt aller Zeiten. Frank Thelen kommentiert: »Great inspiration, Jeff! Never lose your sense of humour! #optimismwins.«

Optimismus verbreitet auch Wagenknecht in ihrer Neujahrsansprache am 31. Dezember auf Sat1: Laut Klimaforschung habe der nukleare Winter der Welt beim Erreichen des 3,5-Grad-Ziels deutlich mehr Zeit verschafft. Zudem habe die Regierung eine Lösung für das Problem, dass Millionen Flüchtlinge aus Frankreich, Dänemark, Polen und den anderen zerrütteten Nachbarstaaten ins unversehrte Deutschland drängen: Im neuen Jahr werde Deutschland aus der EU austreten und die Grenzen schließen. Anschließend feiert die Bundesrepublik eine große friedliche Silvestersause, kein einziger Feuerwehrmann wird attackiert.

Cornelius W. M. Oettle schrieb in konkret 7/22 über zwei Dokumentarfilme, die sich mit der AfD befassen