Pierrot Lunaire

Pierrot Lunaire

Die Herrschaft von Phallus, Staat und Kapital. Der kanadische Regisseur Bruce LaBruce warnt in seiner »Pierrot Lunaire«-Verfilmung vor den mörderischen Konsequenzen einer Emanzipationsgewalt, die in der Auflehnung gegen die Herrschaft der zweiten Natur wiederholt in gewaltsame Naturbeherrschung umschlägt. Von Christian Hammermann

Pierrot Lunaire

27.01.2015 12:47

Regie: Bruce LaBruce; mit Susanne Sachsse, Paulina Bachmann; Deutschland/Kanada 2014 (GM Films); 51 Minuten; DVD

Bei Bruce LaBruce geschehe auf der Bühne »einiges mehr als nötig«, seine Inszenierung kleistere Arnold Schönbergs Werk »hemmungslos« zu – so urteilte Tim Caspar Boehme vor drei Jahren in der »Taz« über eine Aufführung des Melodrams »Pierrot Lunaire« am Berliner Hebbel-Theater. Mit Sicherheit wäre es falsch, dieses Urteil auf LaBruce’ gleichnamigen Film zu übertragen, der auf der Theaterinszenierung aufbaut und nun auf DVD erschienen ist. Auch er überfordert den Zuschauer: Der Versuch, sich sowohl auf Schönbergs Musik zu konzentrieren als auch auf die sich mehr oder minder davon losgelöst entwickelnde Handlung im Bild – alle Dialoge werden im Stummfilmstil als Text eingeblendet –, ist zum Scheitern verurteilt. Der Grund dafür, die Unabhängigkeit der Bilder von der Musik, zeigt aber gerade, dass LaBruce Schönberg nicht »mal eben so zum Hintergrundrauschen erklärt«, wie Boehme über die Theaterinszenierung schreibt.

Man könnte den Film des kanadischen Regisseurs, der sich als queerer Provokateur einen Namen gemacht hat, in die Tradition von Pierre Boulez stellen, dessen Schönberg-Interpretation den Gesamtzusammenhang des »Pierrot Lunaire« betont, während bei Schönbergs eigener Spielpraxis die einzelnen Stücke in den Vordergrund traten. Boulez sieht das Werk, das auf dem gleichnamigen Gedichtzyklus Albert Girauds basiert, als Theaterstück; darum hebt er die Stimme in die Hauptrolle, die Instrumente werden Dekor. LaBruce übernimmt diese Wendung, allerdings lässt er die filmische Erzählung in die Hauptrolle schlüpfen.

Doch Schönbergs Musik dient nicht nur als Soundtrack. Bild und Ton stehen in einer Spannung, die man im Verhältnis von Film und Filmmusik selten findet. Zu Beginn jedes Stücks aus dem Melodram wird dessen Titel bildschirmfüllend eingeblendet und so die von La- Bruce erzählte Geschichte unterbrochen. Sie gewinnt an anderen Stellen wieder die Oberhand über die Musik, beispielsweise wenn sich Popsongs zwischen den Liedzyklus schieben, während Pierrot einen Stripclub besucht. Auch das Grundmotiv der filmischen Handlung, der Dandy Pierrot als Transvestit, entspinnt sich aus der Konzeption Schönbergs, der für den männlichen Charakter einen weiblichen Sprechgesang vorgesehen hat. Der Text soll nicht gesungen, sondern nach Noten gesprochen werden, wodurch die Stimme unnatürlich und ironisch wirkt und den geschlechtlichen Verfremdungseffekt verstärkt.

In LaBruce’ Version führt Pierrot eine zunächst glückliche Beziehung mit Columbine, die jedoch nichts über sein leibliches Geschlecht weiß. Erst die Konfrontation mit dem Vater der Geliebten, einem »fat capitalist pig«, entlarvt Pierrot. Da eine Untersuchung bei ihm keinen Penis, dafür jedoch zwei Brüste zutage fördert, verbietet ihm der Vater den Umgang mit Columbine. Pierrot begibt sich auf die Suche nach einem Phallus, mordet schließlich für einen echten Penis samt Hodensack, den er sich stolz umbindet, um als echter Mann die Anerkennung seiner Geliebten und ihres Vaters zu gewinnen.

Zwar leidet Pierrot bereits zu Beginn des Stückes an seiner weiblichen Physis, panisch, selbstverstümmelnd und mörderisch wird sein Leiden aber erst unter der vom Vater durchgesetzten Geschlechterordnung. Pierrot erfährt an seiner Leiblichkeit seine Unzulänglichkeit als Liebhaber Columbines, eine durch keinen Willensakt abzuschaffende Grenze seiner Autonomie. Voller Entsetzen starren die ehemalige Geliebte und ihr Vater in der Schlussszene auf das umgeschnallte Stück Fleisch. Die Anerkennung als echter Mann bleibt Pierrot versagt, doch sein Aufbegehren gegen die Natur affirmiert als Unterwerfung unter den Vater letztlich die von diesem repräsentierte Herrschaft von Phallus, Staat und Kapital.

Das Wechselspiel aus Rebellion, Affirmation und Unterwerfung funktioniert nur vor dem Hintergrund eins mit der Geschlechterordnung verwobenen Kults der Natürlichkeit. Die als künstlich identifizierten Feinde können wie in La-Bruce’ Erzählung Frauen sein, die sich als Männer geben, und umgekehrt, aber auch Homosexuelle oder Prostituierte, Sinti und Roma, die wurzellosen Juden oder Israel und die USA. Die Reaktionen auf Schönbergs erste Aufführungen des »Pierrot Lunaire« ab 1912 kreisten stets um den unnatürlich wirkenden Sprechgesang. Er bewies für manche die Größe der Komposition, andere sahen in dem Werk nur chaotischen Lärm. In der Verfremdung der Stimme schwingt ein allgemeines Motiv der atonalen Musik mit, die Erweiterung des musikalischen Materials. Die Atonalität verabschiedet sich sowohl von der auf einen Grundton fixierten Dur-/Moll-Tonalität als auch von der auf den Schlusston fixierten Modalität und arbeitet mit der grundtonlosen chromatischen Tonleiter. Die Emanzipation der Chromatik durch die Atonalität widerspricht dem antisemitischen Denken in der Musik. Dem nationalsozialistischen Komponisten und Musiklehrer Hermann Grabner galten chromatische Noten als Fremdkörper im organischen Gebilde des Werks; chromatische Stimmführungen finden sich häufig in den Motiven von Richard Wagners Judenkarikaturen. Die Aufgabe eines Grundtons und eines organischen Gefüges lässt sich leicht allegorisch als Absage an Führerprinzip und Volksgemeinschaft, Atonalität als Kritik an Staat und Nation lesen. Doch in der aus der Atonalität entwickelten Zwölftontechnik triumphiert, bei strenger Durchführung, der Geist völlig über das musikalische Material und richtet dieses nach seinem Schema zu.

Die Auflehnung gegen die Herrschaft der zweiten Natur und gegen das Diktat der Natürlichkeit schlägt um in wiederholte gewaltsame Naturbeherrschung. Bruce LaBruce warnt in seiner »Pierrot Lunaire«-Verfilmung vor den mörderischen Konsequenzen dieser Emanzipationsgewalt. Er erzählt die Geschichte eines Scheiterns.

Christian Hammermann