Kino aktuell

Komm und sieh

Regie: Elem Klimow; mit Alexei Krawtschenko, Olga Mironowa; Sowjetunion 1985; 144 Minuten (ungeschnitten); Russisch/Deutsch mit deutschen Untertiteln; ab 27. November auf DVD und Blu-Ray

 

Eines der Ziele des Genrekinos ist es, den Zuschauer mit den Mitteln des Mediums emotional, also körperlich zu involvieren und ihm eine möglichst intensive ästhetische Erfahrung zu ermöglichen. Das gilt insbesondere fürs Melodram, den Porno- und Horrorfilm, aber auch für den Kriegsfilm, wenn er eine Erfahrung spürbar werden lassen möchte. Zur ästhetischen Erfahrung im Kino gehört allerdings auch, dass sie mit der Involvierung zugleich Sicherheit verspricht. Man muss nicht wirklich jemanden verloren haben, um weinen zu können, und man muss nicht ernsthaft in Gefahr sein, um Herzklopfen zu bekommen. Stanley Cavell beschreibt in seinem Buch The World Viewed das Versprechen des Kinos anhand der Mehrfachbedeutung des Wortes screen: Dieser fungiert gleichermaßen als Projektionsfläche wie als Schutzschirm und Abschirmung.

»Komm und sieh«, das letzte Werk des 2003 verstorbenen russischen Regisseurs Elem Klimow, lässt diesen Schutzschirm so löchrig werden wie möglich. Der Film lief erstmals 1985 in den Kinos der Sowjetunion, nachdem das Drehbuch zuerst über Jahre nicht realisiert werden durfte, und brachte es auf 29 Millionen Zuschauer. Der Film ist, in restaurierter Fassung, jetzt auch in Deutschland auf DVD und Blu-Ray veröffentlicht worden.

»Komm und sieh« ist bestimmt von dem Versuch, im Bewusstsein der Grenzen, an die das Kino hier stoßen muss, Bilder zu finden, die der Erfahrung des Krieges »gerecht werden«, wie man so sagt. Ein Versuch, der auf einen filmhistorisch in dieser Form singulären Angriff auf die Zuschauersinne hinausläuft.

Klimow erzählt vom Vernichtungskrieg der Deutschen gegen die Bevölkerung der Sowjetunion.

Das Drehbuch vermeidet genretypische Stereotype, etabliert keinen Plot im engeren Sinne, im Sinne einer Heldenreise etwa, sondern zeigt Zustände und Situationen: Weißrussland 1943, Abschied von der Mutter, Warten im Partisanenlager, Bombenangriff, Rückkehr in ein von den Deutschen zerstörtes Dorf, Beschuss auf freiem Feld, Vernichtung von Menschen, Rache der Partisanen. Eines seiner Zentren sind die Gesichter im Close-up, zuerst das des etwa 14jährigen Fljora (Alexei Krawtschenko). Ein Gesicht, das sich verwandelt: vom stolzen, vorfreudigen Strahlen nach der Entscheidung, sich den Partisanen in Weißrussland anzuschließen, über das irritierte Staunen darüber, was möglich ist, bis hin zum greisenhaften Antlitz, das nur noch Angst und Entsetzen zeigt. Klimow inszeniert den Krieg als Vernichtungsgeschehen aus der Perspektive eines Kindes, das mehr stummer Zeuge als Akteur ist. Der Titel »Komm und sieh« verweist zum einen auf das Johannes-Evangelium, zum anderen benennt er das Verhältnis, in das der Film sein Publikum zwingen will: Über die Gewalt der Bilder soll die gezeigte Gewalt in die eigene Wahrnehmung der Geschichte der deutschen Besatzung aufgenommen werden. Als affektiv durchschlagendes Bild, als Bild auch davon, wer und was die ganz normalen Männer der Wehrmacht und der SS waren.

Kamera und Tonspur nehmen den Zuschauer, so weit, wie der screen als Projektionsfläche und Schutzschirm es eben zulässt, in diese Perspektive hinein, mit einer Ausdauer, die zur Folge hat, dass sich dieser Film nur schwer aushalten lässt. Wenn Fljora sich dagegen wehrt zu begreifen, dass seine Mutter und seine Schwestern ermordet worden sind, bekommen wir seine Verzweiflung in einer exzessiv langen Sequenz vorgeführt. Das Massaker von Chatyn wird in Echtzeit reinszeniert, eine halbe Stunde, in allen Details, eine Ewigkeit. Welcher Moment des Films genau es ist, an dem Stanley Cavell nicht mehr weiterhilft, wird sich von Zuschauer zu Zuschauer unterscheiden. Irgendwann möchte man nur noch, dass es aufhört.

Die Mittel, mit denen es dem Film auch heute, 35 Jahre nach seiner Premiere, gelingt, die unsichtbare Wand zwischen dem Zuschauer und dem im Bild gezeigten Geschehen porös werden zu lassen, sind einfach, aber nicht simpel. Neben der Ausdauer im Abbilden psychischer und physischer Extremzustände ist es der Eindruck von der, um eine Formulierung Gertrud Kochs aufzugreifen, Welthaltigkeit der Bilder. Die Kuh auf dem Feld stirbt wirklich, Alexei Krawtschenko musste auf dem Set wirklich psychologisch betreut werden, die Hände der Schauspielerinnen und Schauspieler am Set waren im Winter wirklich nahezu erfroren. Zugleich lässt Klimow seine Bilder an signifikanten Stellen ins Surreale kippen und insistiert so darauf, dass die Wirklichkeit dieses Krieges mit den Mitteln des filmischen Realismus nicht eingefangen werden kann.

All das löst »Komm und sieh« aus dem, was im Genre des Kriegsfilms ansonsten leider zumeist produziert wird, heraus und rückt das Werk in die Nähe von Filmen wie Alain Resnais’ »Nacht und Nebel« oder Claude Lanzmanns Dokumentation »Shoah«. Das Sehen, das der Filmtitel vom Zuschauer einfordert, hat keinerlei Triumph-, Erbauungs- oder Erhabenheitspotential. Auch ein dummdeutscher Begriff wie Betroffenheit ist hier nicht einmal ansatzweise zu gebrauchen. Statt dessen gelingt – aus der Perspektive eines deutschen Zuschauers – dem Film mit seiner konfrontativen und inszenatorisch präzisen Direktheit etwas im Kino sehr Seltenes: ein Beitrag zu dem Prozess, so etwas wie ein Verhältnis des eigenen Körpers zur Geschichte überhaupt erst herzustellen. In der schlichten Wahrnehmung – Komm und sieh! – dessen, was geschehen ist. Fürs russische Kino leistet dieser Film Erinnerungsarbeit. Für ein deutsches Publikum bedeutet er, um Klaus Theweleit (nicht zu Klimow, sondern unter anderem zu Lanzmann) zu zitieren, einen Beitrag zu einer »Lösung der Anästhesien des deutschen Leibs gegenüber seiner Nazi-Geschichte«. Man muss nur hinschauen.

Benjamin Moldenhauer