Neuauflage

In diesen Tagen erscheint im Verbrecher-Verlag Dietmar Daths Debütroman Cordula killt dich! von 1995 in neuer Auflage. Darin findet sich ein Kapitel, in dem Dath gegen „einen saudummen Scheiße-Artikel“ aus konkret 10/93 und seinen Autor hetzt. Außerdem lässt er sich über einen Beitrag aus, der in konkret 5/94 erschien und von zwei autobiografischen Texten des französischen Marxisten Louis Althusser handelt.

Allen Leserinnen und Lesern, die sich selbst ein Bild von den genannten Beiträgen machen wollen, gibt die Redaktion hiermit Gelegenheit.

 

Konkret 10/93, S. 42  

Stefan Ripplinger  

Modern Talking  

»Alles ist gut geworden.« – Mit dem mehrbändigen Werk »Festung« hat nun auch der Schriftsteller Rainald Goetz sein tiefes Einverständnis mit der deutschen Gegenwart formuliert und seinen Teil zu ihrer ästhetischen Verklärung beigetragen  

Wenigstens zwei Sorten Materialismus finden sich in der Schönen Literatur. Die erste Sorte sucht ihren Stoff im Stofflichen, um nicht zu sagen im Dreck, in den Wechselfällen der Wirklichen Welt also; sie wird neuerdings von so tollkühnen Burschen wie den Herren Biller und Altenburg propagiert. Dem formal anspruchslosen Leser versprechen diese beiden, neben »Wahrheit, Schönheit, Arbeit«, vor allem »Spannung, Tempo, Leben« (so M. Altenburg im »Spiegel« 42/1992), sie fordern Romane aus »Fleisch, Blut und Papier« (so M. Biller in Die Tempojahre, 1991). Der Leser kann sich ruhig zurücklehnen. Hingegen wird dem Schreibenden zugemutet, um mit dem echten, schwitzenden, stinkenden usw. Leben in Tuchfühlung zu bleiben, sich »an jene dirty places« zu begeben, »wo Bisse und Küsse so schwer zu unterscheiden sind und wo nicht schon alles durch einen ästhetischen Kodex gezähmt ist« (Altenburg). Es ist wenig erstaunlich, dass, wer sich von ästhetischen Kodizes nicht zähmen lässt, zumeist schematische Erzählliteratur, nicht selten Kitsch hervorbringt.  

Die zweite Art literarischen Materialismus’ hat ihre Materie allein an der Sprache oder, sagen wir es genauer, an den diversen Manifestationen der »großen öffentlichen Rede« (R. Goetz): Fernsehen, Radio, Druck, Gespräch. Sie bietet dem Autoren den Vorteil, erstens nicht mühsam etwas erfinden und zweitens, sich nicht die Hände schmutzig machen zu müssen. Ihm obliegt dafür die auch nicht leichte Aufgabe, aus diesem unerschöpflichen und spröden Material – aus dem, was man spricht – klug auszuwählen und es durch Bearbeitung in Form zu bringen. Wenn’s gelingt, sollte auch der Leser etwas Neues erfahren haben über die Welt, die er kennt: die Welt der Kommunikation. Die gesamte dokumentarische und der größte Teil der Montage-Literatur der sechziger und siebziger Jahre lässt sich diesem Materialismus zuschlagen.  

Der Schriftsteller Rainald Goetz will, nach seinen Selbstaussagen und seinen früheren Werken zu urteilen, unzweideutig zur ersten meiner beiden Sorten beisteuern. »(Lieber) eine Schnulze, daß es kracht, als irgendein artifizieller Mist«, posaunt er heraus. Seit seinen Anfängen insistiert Goetz »auf Wahrheit und Leiden, Wirklichkeit und Leben« (H. Winkels) – bis jeweils das Blut spritzt. Vom Wunsche, »mitten in das Leben selbst hinein zu fliehen, wo im Exzeß von Rausch und Nacht und Klang das schönste Denken (kristalliert)«, liest man bei ihm in jeder Zeile. Mit seinen »wirklich erlebten Geschichten« und seinen Tiraden wider die Literatur in der Literatur hat sich Dichter Goetz den Ruf eines autochthonen Polterers erworben.  

Dieser unplugged-Attitüde zum Trotz legt der Mann nun ein Werk vor, das nicht anders als plugged-in zu heißen ist, 1989, seine umfängliche und vollständig kommentarlose, also weitgehend entgoetzte Medien-Mitschrift, ein großes Panorama des Schreckensjahres. Materialistische Literatur der zweiten Art, wenn man meiner extemporierten Einteilung folgen will.  

Der sich selbst zum »Kontrolleur« des Geschehenden und insbesondere des Gesagten aufwirft (»ekstatisch jubilierende Registratur«) und, wie ich höre, tatsächlich bei jeder sich bietenden Gelegenheit mitschreibt, was hier und da besprochen wird, breitet auf knapp 1.600 Seiten seine Kollektaneen aus. Das präparierte Geschwätz eines Jahres liegt da wie unter Glas. Was die einbezogenen Medien anbetrifft, zeigt sich der Sammler als sehr umsichtig: Von Radiomeldungen über Zeitungsnotizen und Boulevard-Reißer (»Freßrückfall / wann / platzt / Liz Taylor«) bis hin zu aufgeschnappten Gesprächen und Latrinenwand-Gekritzel (»no a Spruch / Kieferbruch«) lassen sich die Einträge allen relevanten Medien der BRD zuordnen. Im Vordergrund steht natürlich das Fernsehen. Goetz bevorzugt Live-Reportagen, Sportübertragungen, Talkshows, naturkundliche, geschichtliche, politische Beiträge. Rein Fiktionales ignoriert er. Am 9. November schaut er BRD-, nicht DDR-Fernsehen.  

Als ob er den Moment erfassen wollte, da das »trübe Land und das wüste Volk der Germanen« (Arnold Ruge) wieder erwachte, reicht Goetz’ Material im wesentlichen vom Sommer 1989 bis Sommer 1990. Es ist chronologisch angeordnet. Diese Wort-Massen zu fügen, geht Goetz, anders als vor ihm große Meister dokumentarischer Verfahren – ich nenne Uwe Nettelbeck mit seinen Fernseh-Protokollen, Gerhard Rühm mit seinen »dokumentarischen sonetten« – , die die strenge und eindeutige Form bevorzugten, recht lax vor. Er zerhaut die gefundenen Sprachbrocken zu Bröckchen, die er auf kurze Zeilen verteilt oder als ganze Segmente aufnimmt. Teils thematisch und syntaktisch zerstückelt, teils naturbelassen zieht das Geplapper vorbei: »meine Güte nein / da bleibt einem / ja fast das Herz stehen // irgendwo da drüben / steht jetzt Hajo Friedrichs // heute Abend im Kanzleramt / Visionen einer besseren Welt«. Auf die üblichen Gemeinheiten (»daß die Teilung des Landes / eine offene Wunde sei«) folgt harmloses Geplänkel (»daß ich als Skateboardfahrer / halt so denke wie n Skateboardfahrer«). Goetz rückt Listen von Reizworten (Prominente, Orte, Parteien usw.) ein, fügt Lesefrüchte (aus Hegel, Warhol, Wittgenstein, Brecht und – natürlich – Luhmann) bei, Arbeitspläne, Schmierzettel (»am Fr 23 Spex Party / Sa 24 Max Hetzler Empfang«). Er schneidet zu, hebt hervor, wiederholt gelegentlich, strukturiert aber eher schwach. Manchmal lässt er – wie gedankenverloren – nachklingen: »Begriff des Geistes / Eis / weiß«, oder er ordnet nach Lauten: »Arm Arme Armee«.  

Der Leser kann der »Musik der Reden« lauschen, ohne von Goetz’ Persönlichkeit allzu sehr belästigt zu werden. Der Autor verschont ihn auch mit billigen Kontrasteffekten – wenn man von einer Passage absieht, in der Bilder von den Sonderzügen ausreisender DDR-Bürger neben solchen von den in die KZs verschleppten Juden stehen (»es waren auch Wagen / wie sie zum Viehtransport / benutzt werden«). Über sein höchst eigentümliches Verhältnis zum Holocaust wird noch zu sprechen sein.  

Von der 1989-Lektüre ist keine unmittelbare politische Einsicht zu erwarten. Man erfährt nicht, wie die ideologischen Staatsapparate sich z.B. die Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz, die im ersten Drittel des Buches breiten Raum einnehmen, zunutze machten, nichts über das Spiel mit den Opferzahlen, die Zuschreibungen und Verkehrungen. Man erfährt nicht, wer wo sagte: »dieses Kapitel der Geschichte / wird vom Volk der DDR / selber geschrieben«. Aber die ebenso plumpe wie wirkungsvolle Propaganda der Tage verwandelt sich unterderhand in Reihen von Sätzen. Goetz legt Perlen des Journalismus aus – »es kommt Sturm / über die Ostsee / hier drinnen im Saal / begrüßen wir Willy Brandt« – , es sind Glasperlen. Für sich betrachtet ist 1989 – mit dem Urteil eines Stutzers über ein Werk von Charles Babbage – »a very nice book – just the kind of book that anybody could have written«.  

Leider lässt sich das Buch nicht für sich betrachten. Es ist Teil von Goetz’ Festung, zu der die gleichnamige Sammlung Theaterstücke ebenso gehört wie der Prosaband Kronos, der dem Ganzen »konkreten Halt wirklich erlebter Geschichten« geben soll. Seine mitgelieferten Stücke und Geschichten nötigen aber eine ganz eigene Sicht des Materialienteils auf, zu der sich, ohne die düsteren Seitenflügel dieser Festung zu kennen, wohl auch stalinistischste Kritiker nicht verstanden hätten.  

Der Vater des Zeus, Kronos, wurde schon in der Antike, wegen der Homophonie mit »chronos«, für den Gott der Zeit gehalten. Wollte Goetz, als er seine während der letzten zehn Jahre in Rutschkys »Jahresbericht«, in Bohrers »Merkur« und in »Spex« veröffentlichte Prosa zu einem Band zusammenfasste und das Ganze Kronos nannte, damit dem Geschmack des Suhrkamp-Publikums schmeicheln; wollte er also einfach nur sagen: »Kinder, wie die Zeit vergeht!«, dies aber etwas anspruchsvoller ausdrücken, und hätte er seine Kollektion auch »Tempus fugit« taufen können? Oder will er auf mehr hinaus?  

Ich befürchte letzteres. Zwei Ausdeutungen des Namens werden gegeben. Die eine taucht im Theaterstück Festung auf, die andere in 1989. Die erste, mit »Kronos« überschrieben, besagt, dass die Zeit selbst innehalten müsste, würde sie der Tatsache gewahr, dass die Toten, die sie zurücklässt, in ihrem Fortschreiten, im Fortgang der Zeit immer neu getötet werden: »(Die Zeit) war Wachsen der Berge der nach der Ermordung noch einmal zu tierischen Kadavern zertöteten und ineinander und aufeinander geschmissenen toten menschlichen Leiber ...« Der Hinweis, die in der dunklen Rede genannten Leichenberge seien vor fünfzig Jahren angehäuft worden, sagt, welche Zeit, welche Geschichte gemeint sind. Und doch sei da das »Erleben dieses Unwahrscheinlichsten, daß genau das, was geschah, geschah, daß es weiter ging«. Des Unwahrscheinlichsten? Die Normalität sei, wie die Ordnung, unwahrscheinlich, lehrt der von Goetz hochverehrte Niklas Luhmann. Eine Lehre, die zwanglos auf die Normalität und Ordnung der BRD anzuwenden ist, in der auch der Holocaust nur ein Luhmannsches »Anschluss«-Problem darstellt, das auf unwahrscheinlichste Weise gelöst wird.  

Die zweite Erklärung von »Kronos«: »das Zeitalter / des Kronos / galt bei den Alten / trotz seiner Grausamkeit / als das goldene Zeitalter«. Welche Grausamkeiten hier gemeint sind, können wir uns nun denken. Welches Zeitalter meint er? Die achtziger Jahre, in denen der Großteil der Texte entstanden ist? Nein, die habe er gehasst, bringt Goetz in seiner Biller-Hymne (»Spiegel« 2/1992) zur Kenntnis. »Alles wird gut: haben sie (die Achtziger; St. R.) ganz am Anfang versprochen. Aber sie haben ihr Versprechen schließlich doch gehalten. Erst kam Acid, dann kam 1989.« Und so lässt sich wohl der enthusiastische Ton erklären, den der nunmehr Techno tanzende Goetz in seiner nach 1989 geschriebenen Prosa anschlägt. Alles wurde gut. Ist also mit dem »Zeitalter des Kronos« jene goldene Epoche gemeint, die 1989 anhob?  

In einem aufschlussreichen Abschnitt von Kronos schreibt Goetz über den Soziologen Luhmann: »Manchmal erschrickt man beim Anblick einer Einzelheit dieser theoretischen Welt, die die Wahrheit von allem erhellt: der Bann der Schönheit dessen, was ist.« Genau das hat Luhmann, diesen bürokratischsten aller Bürokraten, nie bekümmert: ob etwas schön sei, – wohl aber die wichtige Frage, wie das »doch auch nötige Ja zur Gesellschaft wiedergewonnen werden kann« (Soziale Systeme, 1987). Wenn ich gleich noch eine »Beobachtung dritter Ordnung« hinzufügen darf: Ein Soziologe, der auf die Frage, welche Empfehlung er der Politik geben würde, äußert: »Die Politik ist offensichtlich undemokratisch. Sie lässt das, was das Volk sich eigentlich wünscht, nicht zu: nämlich dass die Ausländer rauskommen oder wenigstens nicht die guten Wohnungen haben und nicht fast soviel Geld als Beihilfe bekommen wie mancher als Lohn für Arbeit«, der außerdem mahnt: »Ladendiebstähle und Hausbesetzungen kommen kaum zur Anklage« und schließlich postuliert: »(Wir) müssen viel mehr Gefängnisse bauen, und nicht mehr Autobahnen« (»Symptome« 10/1992), hat auch zum kommenden Deutschland bereits seine Ja-Stimme abgegeben, wie es auch immer ausfallen wird.  

Goetz liefert das »ästhetische System« dazu – »trotz allem: aus dem Geist der Lichterkette heraus ...« – , das Luhmann in seiner System-Architektur bisher ausgespart hat. Die Schönheit dessen, was ist. Alles ist gut. Alleine wäre ich nicht darauf gekommen: So lässt sich 1989 natürlich auch anschauen. Billers Frage, ob Hitler ein Warholianer war, wird à propos der Goetzschen Affirmations-Ästhetik neu zu stellen sein.  

Es kommt noch ärger. Das Fernsehen, sagt Rainald Goetz, sei »Revolutionär auf der Bühne von 1989« gewesen. Das, was da umgewälzt wurde, müssen wohl die Leichenberge gewesen sein, die den Pfeil der Zeit, den Gott Kronos, erschrocken innehalten ließen; sie können nun mit Erde beworfen werden.  

Diesen Eindruck vermittelt Goetz’ gigantische Fernsehshow Festung, die dem Gesamtwerk den Namen gab. Ihrer Maxime entsprechend: »wie Automaten wollen wir / nicht ohne uns ein bißchen zickig / scheu zu zieren dann aber doch / mit vollem Rohr die Spalten und Kanäle alle füllen«, befiehlt der Autor die heimlichen und unheimlichen Stars der kulturellen Öffentlichkeit der BRD, nebst einigen Toten, zum Appell. Um nur einige von denen, die mitspielen müssen, also nicht bloß genannt werden, zu erwähnen: Augstein, Diedrich (Diederichsen), Michael Graeter, Karl Held, Vittorio Hösle, Beate Klarsfeld, Hans Jürgen Krahl, Peter Iden, Madonna, Lothar de Maizière, Walter Moers, Jan Philipp Reemtsma, Franz Josef Wagner, Arno Widmann. Einer fehlt in diesem Aufgebot: Siegfried Unseld. Aber der hat Goetz schon den Auftrag zu dem Stück erteilt und braucht wohl nicht eigens darin aufzutreten.  

Ein Präsentatoren-Trio, bestehend aus Katja Ebstein, Hape Kerkeling und – spezieller V-Effekt – Wolfgang Pohrt, führt mit viel Tralala – »danke danke dankeschön« – durch die Show, die als eine Art postmoderne Wannseekonferenz (»Wannseekonferenzkonferenz«) angelegt ist. Ort der Handlung: Wannseevilla, Zeit der Handlung: 9. November 1989. Es soll also in parodistisch zugespitzten Formen und Figuren moderner TV-Kommunikation über den Holocaust verhandelt werden. Um die Sache abzukürzen, lege ich gleich das Ergebnis vor. Es wird, nach Autors Wille, von J.P. Reemtsma vorgetragen: »(Wir) sind das Grundabstraktum Kommunikation / wir sind weil wir noch leben der Triumph / der Kommunikation über Vernichtung / wir sind die Fürchterlichen / wir sind Menschen / und die ganz normalen und das schönste was es gibt.«  

Fürchterlich, aber schön. Grausam, aber golden. Auf die unwahrscheinlichste Weise stellt sich Normalität her. In jeder deutschen Kommunikation werden die Toten noch einmal getötet. Aber das Leben muss ja weitergehen.  

Nun ließe sich einwenden, es sei bereits ein Verdienst, wenn einem zum 9. November überhaupt der Holocaust einfällt, mehr noch, dass jener, wenn auch in der geschmacklosesten Manier, darüber ein Stück gemacht hat. Und sind nicht seine eingestreuten sprachpflegerischen Hinweise – »Ist Ihnen bekannt ... welche Verbrechen / im Namen eines Wortes wie Antlitz / verübt worden sind? / Brauch und Krone / Fuge / Zeugnis ... «; das sei »Gaskammervokabular« – , so naiv sie in ihrem Bemühen sind, Worte zu denunzieren, wo sie, wenn schon, deren Gebrauch treffen müssten, fast ... antifaschistisch zu nennen?  

Um Himmels willen! Gegen dieses falsche Verständnis, die Sache sei politisch anzugehen, muss sich der Dichter, der ein »praktizierender Nichtpolitiker« ist, heftig verwahren. Er bringt sich also selbst ins Spiel, allerdings nicht als Rainald Goetz, sondern als »Bezichtigter« (wessen?), der Goetz-Texte (»Moskau«, »Kadaver« usw.) geschrieben hat und dessen Aussagen von einem »Schriftführer« wiedergegeben werden.  

Am 6. August 1969 (der Todestag Adornos!), sagt der Schriftführer, sagt der Bezichtigte, sagt Goetz, sei durch die »Revolution der Studenten« das »Ende der faschistischen Herrschaft« in Deutschland eingetreten, damit sei zwar Dichtung wieder möglich (wir erinnern uns an das bekannte Diktum Adornos über Gedichte nach Auschwitz), Kritik aber unmöglich geworden. »Wie kann seither vom Negativen überhaupt noch gesprochen werden, wenn nicht über den ... Umweg des Nichtnegativen?« Ganz neue Dialektik. Dass es diesmal eine angebliche Revolution von 1969 sein soll und nicht die Revolution »auf der Bühne von 1989«, die eine affirmative Haltung erzwingt, muss nicht weiter irritieren; jeder Anlass wäre diesem Dichter recht.  

Erfreulicherweise gibt er uns sogleich eine kleine Anwendung seiner abstrusen Theorie an die Hand, die ich den Lesern dieser Zeitschrift nicht vorenthalten will: »Als Beispiel führte der Angeklagte dann den Begriff Reichstag, Reichstagswahl und die von der deutschen Zeitschrift Konkret geforderte sogenannte Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1989 an, wo entgegen allen anderslautenden, selbstverständlich entgegengesetzten Intentionen in Wirklichkeit doch nur ganz normale faschistische Hetzpropaganda für die Wiederbelebung des wie gesagt vor zwanzig Jahren gestorbenen bundesrepublikanischen Faschismus getrieben werde, damit man selbst als monatlich erscheinender Antifaschist und Kommunist einfach ordentlich orientiert wie eh und je weitermachen kann, als wäre nichts Neues passiert.« Dabei ist ja etwas Neues passiert: Alles ist gut geworden. Goetz weiter: »Gerade dies würde er selbst alles nur zu verständlich und geradezu ehrenwert finden, allerdings eines eben doch nicht. Dass nämlich von den antifaschistischen Faschismuspropagandisten ... so ein selbstgefälliges Wohlgefühl für das eigene propagandistische tolle Tuen abgesahnt und ausgestrahlt werde ... «  

Welch verschlungenen »Umweg des Nichtnegativen« manch einer nimmt, um – höchst verklausuliert und qua zwiefacher Brechung in einer auf den Tag der Konterrevolution gelegten Theater-Konferenz über den Holocaust – schlicht Ja zu sagen! Hätte sie sich nicht einfach in eine der Lichterketten einreihen können, diese Leuchte, in deren freischwebender Kommunikationstheorie derjenige, der über Faschismus redet, sofern er es nur eindeutig genug tut, selbst ein Faschist ist; eine Auffassung, nebenbei bemerkt, die mit der von allen Schmöcken dieses Landes vertretenen, der Faschismus sei eine Erfindung des Antifaschismus, harmonisch zusammenklingt.  

Sollte uns ausgerechnet einer, für den KZs »Kommunikationslager« sind, etwas über die immer wieder neu Ermordeten des Holocaust erzählen dürfen? Warum berichtet er nicht statt dessen von seinen dionysischen Techno-Parties? Ich weiß, warum.  

Nicht umsonst steht am Schluss des eben zitierten Monologs der Satz: »Der Angeklagte kam dann auf seine Bewunderung für den Schriftsteller Maxim Biller zu sprechen.« Es war nämlich Biller, der (a.a.O.) angesichts der »geschichtsschwangeren 90er-Jahre-Epoche« den mangelnden Patriotismus der jungen Garde deutscher Schriftsteller monierte: »Die Jugend aber schweigt. Ich höre nicht Rainald Goetz oder Thorsten Becker oder Diedrich Diederichsen über Deutschland sprechen ... « Sollte sich Goetz dies zu Herzen genommen haben, dann gewiss auch die Weisung, der Reaktion sei mit einem »modernen, fortschrittlichen, zivilen, internationalen Nationalismusbegriff« entgegenzutreten, die Biller, als ob er Eulen nach Athen oder Schwachsinn in eine deutschnationale Redaktion tragen wollte, in dem Magazin (»Spiegel« 41/1992) ausgab, welchem eben jener Rudolf Augstein vorsteht, den er zuvor einen »alten Idioten« nannte.  

Und noch einmal Biller: »Vielleicht wäre eine Spur Patriotismus gar nicht schlecht ... Patriotismus ist auch Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft von Kultur und Sprache, Region und Geschichte, in die man hineingeboren wird. Patriotismus ist eine Art Gesellschaftsvertrag. Du gibst was, du kriegst was« (Tempojahre). Motherfuckin’ right! Sie haben genommen, sie haben gegeben. – Mehr als andere, wie man das von »rasenden Mitläufern« (Chr. Schultz-Gerstein) auch erwarten darf. Bedenken wir aber, dass ihre Schriften eines Tages, vielleicht bald schon, nur Dokumente, bloß Material sein werden.  

Ich übergebe die patriotischen Beiträge der Goetz und Biller dem Komitee Unheilbares Deutschland zur Aufbewahrung.
 

Rainald Goetz: Festung: Festung (es 1793), 1989 (es 1794), Kronos (es 1795). Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1993. Zusammen 78 Mark, auch einzeln käuflich
 

Stefan Ripplinger schrieb in KONKRET 9/93 über Theodor Lessing  

 

 

 

 

Konkret 05/94, S. 58  

Petra Bail, Stefan Ripplinger  

Ist es einfach, Althusser zu sein?  

War Louis Althusser deshalb ein bedeutender und innovativer kommunistischer Philosoph, weil er eine ausgesprochen schwere Kindheit hatte? Zwei autobiografische Texte des französischen Marxisten geben zu Spekulationen Anlass  

»Il faut croire
Que c’est la société
Qui m’a definitivement ab^imé.«
Brigitte Bardot / Serge Gainsbourg, »Bonnie & Clyde«
 

»Ein Brief erreicht immer seinen Adressaten«, behauptete Jacques Lacan, der Psychoanalytiker. Louis Althusser, der materialistische Philosoph, hielt dagegen: »Es kommt vor, daß ein Brief seinen Adressaten nicht erreicht.« Einen dieser verlorenen Briefe schrieb Althusser selbst. Es ist sein letzter Text, Die Zukunft hat Zeit, den er in erster Linie an Hélène Legotien-Rytmann richtete, seine Frau, welche er fünf Jahre zuvor erwürgt hatte.  

Konnte Lacan mit seiner Briefmetapher auf das intime Verhältnis zwischen Analysand und Analytiker vertrauen, in dem »schlechterdings jede unbewußte, ans Unbewußte des anderen gerichtete Botschaft ihn folglich auch zwangsläufig erreicht«, so geht Althussers letzte Botschaft ins Leere. Nicht nur hat er den einen Adressaten, die geliebte Hélène, vernichtet, auch fehlt jeglicher Austausch mit einer Öffentlichkeit, die ihn einst feierte und nun jede seiner Aussagen in einen Vorwurf gegen seine »anti-humanistische« Philosophie verkehrt.  

Noch einen weiteren Adressaten, den Schreibenden selbst, verfehlt das Geschriebene: Er versucht in peinigender Arbeit, seine Vergangenheit aufzurollen, doch nur, um sie damit gleichzeitig aufzuheben. »Und jetzt, wo ich dem Publikum, das darauf brennt, dieses sehr persönliche Buch anvertraue, geschieht das, ... um endgültig in die Anonymität einzutreten, nicht mehr die des Grabsteins der Haftverschonung, sondern in die Veröffentlichung alles dessen, was man von mir wissen kann...«  

Indem der Autobiograf, alles preisgebend, sich selbst und seine Geschichte auslöschen will, nimmt er erneut eine Lektion seiner Kindheit durch. Seine Mutter benannte ihren Erstgeborenen nach ihrem gefallenen Bräutigam, Bruder ihres Gatten, nach dem einzigen Mann, den sie je geliebt hat. Louis war immer »lui«, er, ihr abwesender Geliebter, der »in den Lüften über Verdun als Beobachter in einem Flugzeug den Tod gefunden hatte«. Lacan zum Trotz ist es nicht der Nom-du-père, der die symbolische Gewalt der Familie über das Kind besiegelt, sondern Mutters Name für »ihn«. Seine Kindheit empfindet Althusser als die eines lebendig Toten.  

Für den alten Louis, der auf die Geschichte einer verweigerten Liebe und einer geliehenen Identität zurückblickt, zieht der eigene Name noch andere Vorstellungen an: Das spitze »i«, mit dem er schließt, ruft schmerzhaft jenen Pfahl aus den kindlichen Alpträumen in Erinnerung, auf den namenlose Opfer aufgespießt werden, und zweifellos »sagte (der Name Louis) auch, und zwar an meiner Stelle, etwas zu deutlich ja (›oui‹) und ich empörte mich gegen dieses ›Ja‹, das das ›Ja‹ zum Wunsch meiner Mutter war, nicht zu meinem eigenen«.  

Der Anonymität des Jasagers, des namenlosen Gepfählten setzt Althusser eine gute Anonymität entgegen: die kommunistische Gemeinschaft. Sie wird durch seinen Wunschnamen symbolisiert, Jacques – mit Anklang an »jacquerie«, Bauernaufstand, an jene »jacqueries-Aktionen, die aus dem Mittelalter stammen und sogar die kommunistische Partei in Verwirrung stürzen«. Der Zischlaut »J« stehe außerdem für einen Strahl Sperma, für die ihm versagte Sexualität, »ques« sei »queue«, der Schwanz.  

Ob Althusser die nächstliegende Laut-Assoziation zu »Jacques« übersehen hat – »chaque« (jeder)? Oder zeugt solches Aussparen nicht von einem unbezähmbaren Wunsch? Ist nicht der Name, den er begehrt, der Name »jeder«, der nicht bezeichnende Name, der Nicht-Name, die Namenlosigkeit? An anderer Stelle hält er fest: »In der Anonymität verschwinden, meine einzige Wahrheit: sie ist es immer geblieben und ist es noch heute, trotz und gegen meine Bekanntheit, unter der ich schrecklich leide.«  

Althussers letzter Brief, seine Botschaft, die uns als Fremde, Nicht-Gemeinte erreicht, sagt, dass die Entstehung des theoretischen Werks nicht von den wahnhaften Phasen seines Lebens zu trennen ist. Er bekennt das in der Hoffnung, auch sein schmales Werk mit sich ins Nichts zu reißen. Und doch lässt sich seinen politischen und philosophischen Schriften, was die Klarheit betrifft, unter denen der Zeitgenossen wenig Ebenbürtiges gegenüberstellen. Was er sagen kann, sagt er deutlich, ungetrübt vom Wahn, entschlackt vom sentimentalen Desideratum. Stets wahrt er Distanz. Dem Bild des idealen Zusammenlebens, das er in Die Zukunft hat Zeit pathetisch entwirft, hat er in seinen politischen Pamphleten eine präzise Bedeutung gegeben: die des demokratischen Zentralismus, der Demokratie im leninschen Sinn.  

Auch zwischen seinen Skizzen zur ideologischen Reproduktion des Kapitalismus in Familie, Schule usf. und dem, was er zuletzt über sein Leben mitteilte, zeigen sich Parallelen; wie eine mathematische Formalisierung nimmt sich die philosophische Abstraktion neben den Bildern des Lebens aus. Immerhin stellt er es dem Leser anheim, die »Macht bestimmter gewaltsamer Gebilde über mein Leben nach ihren Wirkungen (zu beurteilen), die ich früher Appareils idéologiques d’État (Ideologische Staatsapparate) genannt habe« – beginnend mit der grundlegenden Institution Familie.  

Kirche, Partei, Universität, Analyse, ja selbst noch die unfreiwillige Gemeinschaft des Gefangenenlagers sind für Althusser »Kokons«, in die er sich einspinnen kann, gleichzeitig aber Gegenentwürfe zu der totalen Institution Familie. Ihr entronnen, empfindet er noch das Lager als Befreiung: »In der Kriegsgefangenschaft hatte ich... mit reifen, zumindest zu ihrem eigenen Besten aus der Familie entlassenen Menschen (zu schaffen), reif, weil erwachsen und frei geworden.«  

Die Institution stellt den einzelnen vor die Aufgabe, die Althusser später als die zentrale Problematik der Philosophie begreift, »herauszubekommen, wie man aus einem Kreis herausfindet, wenn man dabei gleichzeitig drinbleibt«. Entscheidend ist, ob die Möglichkeit des Überschreitens offengehalten werden kann. Im Lager genügt es ihm, den perfekten Fluchtplan zu schmieden, zu wissen, dass er gelingen kann – er verzichtet darauf, ihn auszuführen. Ebenso gehe es nicht darum, den »Ideologischen Staatsapparaten« zu entfliehen – sofern das überhaupt möglich wäre, solange man sich im Austausch mit anderen befindet. Um den Zwang der Apparate zu brechen, ist es nötig, ihnen gegenüber eine Position einzunehmen, und das heißt für Althusser, innerhalb des Klassenkampfs seine Rolle zu finden.  

Ohne jede Skrupel charakterisiert er seine Tätigkeit für eine katholische Studentenorganisation als erste politische Arbeit, die ihn mit machiavellistischen Prinzipien vertraut machte. Machiavelli ist für ihn der Theoretiker des Handelns, des Klassenkampfs. Schon vor der Bekanntschaft mit Hélène, der aktiven Kommunistin und Widerstandskämpferin, hatte er sich für den Übertritt in die Partei entschieden.  

Die Partei stellte ihn schon bald auf die Probe. Hélène, 1931 der KPF beigetreten, hatte im Jahr 1939 den Kontakt zu ihr verloren, dennoch in der Résistance weitergekämpft. Ein Ränkespiel, an dem offenbar Aragon maßgeblich beteiligt war, führte nach dem Krieg zum definitiven Parteiausschluss Hélènes. Das eine Woche währende Tribunal über sie erschien Althusser als ein »Moskauer Prozeß mitten in Paris«. Er beugte sich zwar der Entscheidung der Mehrheit, ließ sich aber nicht von Hélène isolieren.  

Die genauen Umstände dieses doch für beide lebensentscheidenden Prozesses liegen weiterhin im dunkeln. Was zur Biografie des Paares vorliegt, handelt den Prozess unzulänglich ab. Bekannt ist, dass Hélènes einflussreicher Freundeskreis ihr im entscheidenden Moment die Unterstützung verweigert. Paul Eluard speist Althusser mit den Worten ab: »Ich kenne sie doch; immer muß man ihr helfen!« Althusser hilft ihr. Er, selbst schutzbedürftig, rettet sich, indem er Hélène rettet. Von nun an sind sie in einem symbiotischen Verhältnis aneinandergekettet: er verteidigt sie, sie verteidigt ihn gegen alle zum Teil heftigen äußeren Anfeindungen.  

Eine höchst fragile Konstruktion. Nach der ersten gemeinsamen Nacht mit Hélène flüchtet Althusser, von der körperlichen Nähe verstört, in eine schwere Depression, die einen Klinikaufenthalt notwendig macht. Depression, Klinik – neue Kokons für ihn. Während er mit Elektroschocks traktiert wird, reist sie alleine nach England, um die in dieser Nacht empfangene Schwangerschaft abzubrechen. Althusser schottet sich in seiner Krankheit ab, Hélène, geängstigt, bleibt alleine. Eine Situation, die sich in den kommenden Jahrzehnten stets wiederholen wird und die sich immer weiter verschärft. Während eines längeren Krankenhausaufenthalts Althussers im Jahr 1980 wird Hélène von so quälender Angst übermannt, dass sie nach seiner Heimkehr droht, ihn auf die eine oder andere Weise zu verlassen, ohne fähig zu sein, diese Drohung wahr zu machen. Der immer unerträglicher werdende Zustand kulminiert schließlich im Mord, den Althusser in einer geistigen Absenz begeht.  

Eine andere Trennung war längst unmöglich geworden, so ineinander verzahnt sind beider Persönlichkeiten. Litt Louis Althusser, den Namen eines fremden Toten tragend, unter einem Gefühl der Nichtanwesenheit, stand Hélène Rytmann unter dem Zwang einer sie überallhin verfolgenden Anwesenheit – der ihrer schrecklichen Mutter, die ihr Kind gehasst hatte und der Hélène ähnlich zu sein fürchtete. Im Gegensatz zu ihm trug Hélène seit den Résistance-Tagen einen selbst erworbenen Namen, ihren nom de guerre »Legotien«.  

Hélène Legotien-Rytmann, 1910 geboren, stammte aus einer jüdischen Familie, die vor den Pogromen in Russland nach Frankreich geflüchtet war. Sie studierte Literatur und Geschichte, fand früh Zugang zur Pariser Intelligenz und war von 1934 bis 1938 Assistentin von Jean Renoir; nach dem Krieg ging sie unterschiedlichen Tätigkeiten nach, u. a. arbeitete sie als Soziologin bei der Sedes. Ihr Résistance-Roman Passé Simple wurde von Camus, damals Lektor bei Gallimard, verworfen. Das Thema, zu Beginn des Textes gut verarbeitet, entgleite ihr im weiteren, es mangle ihr an Objektivität; dem Buch fehlten außerdem »zwei oder drei Momente des Wunderbaren, ein gut Teil Unwissenheit, ich meine das Allzumenschliche, Unberechenbare jeglicher Existenz«. An Unwissenheit ließ sie es offenbar ebenso fehlen wie an Konzilianz; anders wäre der große Hass, den sie in ihrem Leben auf sich gezogen hat, nicht zu erklären. Das Manuskript von Passé Simple gilt heute als verschollen.  

Aus der Partei ausgetreten, blieb Hélène Legotien Kommunistin und in der Gewerkschaft aktiv, damit jener Kraft nahe, an die sie bis zum Schluss geglaubt hat: der Arbeiterbewegung. Erst 1975 heiratete sie Althusser.  

Bei Althussers Balanceakt zwischen Theorie und Praxis blieb Hélène Legotien immer das Korrektiv zur Praxis und zur Aktion hin. Sie war es auch gewesen, die dem Körperlosen, für den es »das Ärgerliche ist, daß es Körper gibt, und, schlimmer noch, Geschlechter«, einen Körper gegeben hatte, sie war seine erste Geliebte, die Frau, die ihn in mehr als einer Beziehung lehrte, was Materialismus bedeutet.  

Materialismus, rekapituliert der einsame Althusser 1985, heißt, »sich keine Geschichten zu erzählen«. Durch den Parteiausschluss Hélènes der Härte stalinistischer Praktiken gewahr, zog er nach dem XX. Parteitag der KPdSU dennoch ganz andere Lehren aus der Stalin-Epoche als die übrigen Theoretiker der Partei. Deren Vorschlag, zu den humanistischen Fundamenten des Marxismus zurückzugehen, weist Althusser unter Berufung auf den reifen Marx des Kapital zurück. Er will nicht die Verwässerung des von Stalin verdorbenen Marxismus, sondern dessen Restitution in der radikalsten Form.  

Mit seinem »theoretischen Anti-Humanismus« setzte er sich harscher Kritik aus, denn auch die KPF nutzte die Gunst der Stunde zu einer Sozialdemokratisierung ihrer Prinzipien. Für Althusser bleibt der Humanismus eine bürgerliche Attitüde. Er ist die Sondermoral des Bürgers, eine sichere Methode, humane Verhältnisse zu verhindern. Er suggeriert einen Menschen freien Willens, der Herr seiner Handlungen sein kann und verschleiert so die tatsächlichen Gegebenheiten des neuesten Kapitalismus, in dem die Determiniertheit jeden Denkens und Handelns vorher nicht erreichte Ausmaße annimmt. Damit gewährleistet der Humanismus als Ideologie das Fortbestehen der Ausbeutung. Der Mensch, den er verheißt, bleibt ein uneinlösbares Ideal, und die Formen, welche dieses Ideal umkleiden, Individualität und Subjektfunktion, sind die sklavischsten. In ihnen fallen Unterwerfung und Blindheit zusammen. Die Rückkehr zum Humanismus – zur großen »Ich-Erzählung« – als Alternative zur »Ideologie« auszugeben, ist ideologisch, unfrei. Das Bewusstsein darüber scheint zu erlöschen.  

Seit seinem frühen Aufsatz »Über den jungen Marx« insistierte Althusser auf dem »epistemologischen Einschnitt« zwischen dem frühen, von Feuerbachs Anthropologismus beeinflussten Marx und dem Autor des Kapital, der von konkreten Individuen abstrahiert und sie »theoretisch als bloße ›Träger‹ von Verhältnissen« behandelt. Mit Marx erklärt er: »Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen« und: »Meine analytische Methode geht nicht von dem Menschen, sondern von der ökonomisch gegebenen Gesellschaft aus.«  

Diese philosophische Konzeption, die im Konkreten die Resultante vieler (sozialer) Vektoren sieht, rückte ihn in eine verführerische Nähe zum in den Sechzigern aufblühenden Strukturalismus. Der Strukturalismus, schreibt er später, sei ihm wie »ein junger Welpe« zwischen den Beinen hindurchgehuscht. Althusser lässt sich mitreißen. In einer seiner hypomanischen Phasen schreibt er kurz nacheinander, zum Teil in Zusammenarbeit mit Schülern, die oft als Hauptwerke deklarierten Essaybände Lire Le Capital und Pour Marx.  

Unübersehbar ist Althussers Aversion gegen jegliche Berufung auf direktes Erleben und Erkennen. Berührung gestattet er sich nur mittels Theorie. Unwillkürlich ist man an die Kindheitsgeschichte des Philosophen erinnert – die Mutter vergällt dem Knaben gleichzeitig jede körperliche Berührung und berührt ihn doch permanent durch Nennung seines Namens. So sehr Althusser später Nähe anstrebt, so sehr fürchtet er jene schamlose, erniedrigende Nähe, wie er sie durch den Ideologischen Staatsapparat Familie kennenlernte.  

Diese Kindheitserfahrungen scheinen in der Theorie verwertet zu sein. Im Zentrum der ideologischen Reproduktion steht das Subjekt, das durch die Ideologie »angerufen« wird. Es ist der Ideologische Staatsapparat Familie, der dem Individuum – schon vor der Geburt – einen Platz innerhalb seines Gefüges zuweist, indem er ihm einen Namen gibt, es anruft und es dadurch unausweichlich zum Subjekt, d.h. zum »Unterworfenen«, stempelt. Das Subjekt erkennt sich wieder in seiner Anrufung und bestätigt so die Macht, die über es ausgeübt wird.  

Es war Althussers Neurose, die ihn für diese Vorgänge sensibilisierte. Was dem einen Initiation ist, ist dem anderen Katastrophe. Ein Kind, dem der eigene Name als ein fremder erschien, musste diesen Vorgang der Anrufung, der ideologischen Überwältigung, als grausam empfinden.  

Zur Wirklichkeit des Subjekts wird – in Abwandlung eines guten Satzes von Fritz Mauthner (des Sprachkritikers, nicht des Nationalisten) – gesagt werden müssen: Das Subjektgefühl ist eine Täuschung, aber keine Lüge. Das Subjekt, wenn es auch, gesellschaftlich, ökonomisch gesehen, eine Schimäre ist, lebt fort im ideologischen Prozess. Dem einzelnen erscheint sein Subjektgefühl unabweisbar, evident. Er wird in diesem Gefühl wiedererkannt und bestätigt. Und so scheint dem Knaben Louis sein Schicksal – in seinem Namen – beschlossen. Er ist ergriffen von der Wirklichkeit, die sich als Ideologie reproduziert. So stark er aber ergriffen wird, so wenig ist ihm selbst Begreifen möglich. Gehen wir zu weit in unserer Spekulation, wenn wir vermuten, dass erst die Krankheit, die Fremdheit sich selbst gegenüber, das Gefühl der Nicht-Anwesenheit die Voraussetzung schufen, zu sehen, was jedem anderen selbstverständlich und daher unerkennbar ist?  

Begreifen gelingt erst in der Distanz, in einer Abstraktion und Fremdheit, die jedes Evidenzgefühl ausschließen. Nur so, mühsam und indirekt, lässt sich Nähe ermöglichen: indem Sprache und Erleben geprüft und in einer wissenschaftlichen Praxis ausgewertet werden. Daher rührt die enorme Bedeutung, die Althusser der Philosophie zuweist, welche den politischen Kampf nicht nur zu begleiten hat: »Die Philosophie ist in letzter Instanz Klassenkampf in der Theorie«, ein Feld, wo »der Krieg ein allgemeiner Zustand« ist, wo ein hobbesscher Krieg aller gegen alle herrscht, ein Krieg, in welchem der Philosoph nicht umhin kann, Stellung zu nehmen. In diesem Krieg gibt es ungewöhnliche Frontverläufe und unwahrscheinliche Allianzen. Nicht zwangsläufig führen die geradlinigen Wege zu sicheren Stellungen. Althussers Weg zu Marx war nicht über den Hegelianismus, sondern über eine höchst eigenwillige Lektüre von Machiavelli, Montesquieu und – vor allem – Spinoza verlaufen.  

Den abenteuerlichen Umweg schlägt er ein, um den Hegelschen Begriffsgespenstern auszuweichen, die »im Vorzimmer des Materialismus« hausen. Althussers Nominalismus lässt ihn vor Hegel zurückschrecken. Nominalismus – die systematische Weigerung, an Wörter zu glauben – erscheint ihm schließlich als tiefste Form des Materialismus. Nominalistische Sprachkritik liefert Einsichten in die Mechanismen der Ideologie und stellt deren Illusionen bloß. Althusser will den Nominalismus in eine Waffe verwandeln.  

Wie ernst es ihm damit war, bezeugen seine unermüdlichen Versuche, die nominalistische Sprachkritik in der Politik nutzbar zu machen. 1976, anlässlich ihres XXII. Parteitags, beschließt die KPF, das Postulat der »Diktatur des Proletariats« aufzugeben. Sie müsse eine breitere Volksmasse ansprechen, sagt die Partei, außerdem sei »nach Hitler, Mussolini, Franco usw. das Wort ›Diktatur‹ untragbar geworden«.  

Althusser antwortet darauf wie ein Nominalist: »Nicht die Worte selbst entscheiden über ihre Bedeutung, sondern ihr Echo« innerhalb der ideologischen Apparate. Auch proletarische Parteien sind Ideologische Staatsapparate, da sie unter den gegenwärtigen Bedingungen in die Form der bürgerlich dominierten ideologischen Auseinandersetzungen gezwungen sind. Geht die Partei, sagt Althusser, auf ein Volksbündnis aus, dessen Zentrum nach wie vor das Proletariat bildet, dann wiederholt sie nur, was auch Marx und Lenin forderten. Wäre es ihr bloß darum zu tun, hätte das Postulat bestehen bleiben können. Was aber den Begriff der »Diktatur« betrifft, so beweist die Partei, indem sie ihn ohne weiteres fallen lässt, dass sie sich um die peinliche Diskussion des Stalinismus drücken will, denn diese Diktatur hatte sie eigentlich gemeint. Was hier aus einem durchsichtigen politischen Kalkül heraus geschieht, hat indes weitreichende Folgen für die Ideologie. »Man kann die Diktatur des Proletariats ›aufgeben‹: aber man findet sie wieder, sobald man vom Staat und vom Sozialismus spricht.«  

In allen Auseinandersetzungen mit der Partei geht es Althusser nicht um Worte, sondern um Positionen. Eine Position ist aber gerade durch die Abwesenheit bestimmter Worte, die Anwesenheit anderer markiert. Am Wortgeplänkel von Georges Marchais erkennt er, wie dieser nach und nach strategische Stellungen aufzugeben bereit ist. Die Partei hat die »Diktatur des Proletariats« ausgesetzt »wie einen Hund«. Und sie fährt fort in der sukzessiven Aushebelung ihrer Prinzipien. Dessen voll bewusst, bleibt Althusser dennoch bis zum Mord Mitglied der Partei; danach verlängert er seinen Parteiausweis nicht mehr, um ihr keinen Schaden zuzufügen. Erst damit tritt er – leise, unmerklich – aus dem Kreis heraus, den er vorher unzählige Male überschritten hatte, ohne ihn zu verlassen.  

Er hatte nichts zu widerrufen. Jene bitteren, pessimistischen Anmerkungen, die der 1990 Verstorbene in einem Entwurf zu der posthum veröffentlichten Schrift Die Zukunft hat Zeit niederlegte, Absagen an den historizistischen Glauben, die Geschichte steuere ein Ziel an, transponieren lediglich in eine düstere Tonart, was er seit den Sechzigern stets wiederholt hatte. Sich keine Geschichten erzählen. Sein Historischer Pessimismus bezeichnet die erheblichste Abweichung des außergewöhnlichen Dogmatikers von der marxistisch-leninistischen Orthodoxie. Die Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen, aber keine, deren Ausgang im voraus feststünde. Der gesellschaftliche Kampf ist zu führen, ohne dass man sich des endgültigen Gelingens sicher sein könnte.  

Louis Althussers Verdienst ist es, darauf hingewiesen zu haben, dass sich der »Klassenkampf ... bisweilen zusammenfassen läßt im Kampf um ein Wort, gegen ein anderes Wort«. Seinen persönlichen Kampf hat er für einen Namen geführt, gegen einen anderen Namen.

 

Louis Althusser: Die Zukunft hat Zeit. Die Tatsachen. Zwei autobiographische Texte. Aus dem Französischen von H. H. Henschen. S. Fischer 1993, 415 Seiten, 44 Mark.  

Yann Moulier Boutang: Louis Althusser. Une biographie. Band 1. Bernard Grasset 1992, 509 Seiten, 175 Francs.  

Die Werkausgabe des Argument-Verlags ist nach dem Tod Althussers unterbrochen worden, da der neue Rechteinhaber IMEC dessen mündliche Zusagen nicht anerkennt.
 

Die Verfasser danken Frau Valérie Cadet (»Débats«) für freundliche Unterstützung.
 

Stefan Ripplinger und Petra Bail leben in Berlin