Wer liebt Elfriede Jelinek?

Die Schriftstellerin Elfriede Jelinek feiert heute ihren 75. Geburtstag. In konkret 11/04 schrieb Richard Schuberth, dass die Verleihung des Literaturnobelpreises an Jelinek "wahrscheinlich das größte Mißverständnis in der Geschichte der Kulturindustrie" war.

Gott schütze mich vor meinen Freunden, mit meinen Feinden werde ich selbst fertig, mag sich Elfriede Jelinek nach der Entscheidung der schwedischen Akademie gedacht haben. Denn an der Sympathie, die der Autorin in Österreich neuerdings entgegenschlägt, lassen sich die Ressentiments mitunter ablesen wie den Hll. Drei Königen die Geldgier vom Gesicht. Günter Nenning etwa, seit 50 Jahren pragmatisierter Lustgreis der Nation, brachte die österreichische Liebe zu Jelinek am ehrlichsten auf den Punkt – »Ich liebe sie, und weil sie sich mir verweigert, liebe ich sie desto mehr« – und entblößte damit die unbefriedigte patriarchale Besitzgier, welche sprachlich zu bannen Jelineks großes Verdienst ist. »Sie ist unser, die unmögliche Liebe zu ihr ist möglich«, blies der »Landvermesser« zur Conquista des renitenten Bezirks Jelinek.  

»Ein Freudenfest für die österreichische Literatur«, frohlockte Gerhard Ruiss, Sprecher der Interessengemeinschaft der österreichischen Autorinnen und Autoren, über Jelineks Erfolg und entbot ihr seine »uneingeschränkte Gratulation«, was vermuten läßt, daß eine Einschränkung zur Diskussion stand. Gilt der Literaturnobelpreis der österreichischen Literatur, so gilt er in logischer Folge – wie Kunststaatssekretär Morak einen Schritt weitergeht – doch vorrangig den österreichischen Steuerzahlern, die jene seit jeher übers Kulturbudget gemästet hätten. Die netteste Reaktion kam indes vom Dichtungsschulengründer Christian Ide Hintze: »Wow! Yauu! Huuu!!« lautmalte er, ganz Wiener Schule für Dichtung, und verriet sogleich deren oberstes Formprinzip: »Da bleibt einem im ersten Moment die Sprache weg!«  

Daß Elfriede Jelinek in keinem Moment ihres Schaffens die Sprache wegblieb, scheint man ihr am wenigsten zu verzeihen. Wie anders ließe sich erklären, daß allerorts, vom Provinzblatt bis rauf zu den Juroren der Schwedischen Akademie, ihre angebliche Wut, Verzweiflung und Verletzlichkeit, auch ihr außerliterarisches Engagement in die Waagschale gelegt werden, als ginge es beim Nobelpreis nicht um die Auszeichnung sprachlicher Kunstwerke, sondern exzentrischer Idiosynkrasien. Marcel Reich-Ranicki sagt es frei heraus: »Meine Bewunderung für ihr Werk hält sich in Grenzen. Meine Sympathie für ihren Mut, ihre Radikalität, ihre Entschlossenheit und ihre Wut ist enorm.« Oberheulsuse Claus Peymann zeigte sich stellvertretend für die Geehrte zu Tränen gerührt und schwulstete Jelinek zu einer »Kassandra« hoch, deren kosmischer »Schmerz« sie »an den gefährlichsten Abgrund ihres Lebens geführt hat«.  

Kunst soll Schmerz beredt machen, und Wut ist ein großartiges Movens literarischer Produktion. Diese aber nachträglich in Jelineks Werke hineinzupsychologisieren, ist nichts als Ranküne derer, die sich von Jelinek um das Schöne, Gute und Wahre betrogen fühlen. Mit Schmerz und Wut reagieren sie darauf, daß in den Sprachkompositionen der Nobelpreisträgerin nicht Schmerz waltet, sondern kalte Analyse, nicht Wut, sondern souveräner Witz. Qualitäten, die man einer Frau nur schwer nachsieht. Auch in feministischen Kreisen wurde ihr bisweilen übelgenommen, daß ihre weiblichen Figuren zwar Opfer, aber keine Identifikationsfiguren, ja nicht einmal Subjekte sind, sondern gleich Männern hilflose Miststücke, wie es die Existenz auf gesellschaftlichen Misthaufen nun einmal gebietet.  

»Jelineks Vermögen zur Gestaltung fein nuancierter Individuen ist nicht unbedingt das beste auf der Welt«, bemäkelt das »Svenska Dagbladet« ausgerechnet ihre größte Stärke, die Michael Scharang bereits in seinem Essay zum Roman Lust würdigte: »Die Menschen sind heute in einem viel höheren Maß austauschbar als der Krempel, den sie produzieren. Eine Literatur, die das nicht festzuhalten vermag, stellt statt Menschen Denkmäler dar. Damit verfehlt sie zwar die Wirklichkeit, nicht aber das Bedürfnis mancher Leser und Kritiker, von der Kunst das volle Menschenleben einzufordern, welches das Leben ihnen vorenthält.«  

In Jelineks Werken ist bekanntlich nicht der Mensch Subjekt, sondern die Sprache. Und nur wer über die Kongruenz von Sprache und Wirklichkeit Bescheid weiß, dem erschließt sich ihr Witz in all seinen Spektralfarben. Ein Witz, der, dem Vorbild des angelsächsischen wit folgend, nicht einmütige Heiterkeit, sondern das Hohnlachen der Erkenntnis evoziert – und in Jelineks Sprachbildern stets auf ein Grundmotiv rekurriert: das tragisch-komische Phantasma der Individualität und ihre zwingende Uneinlösbarkeit. Keine sich verkleinbürgerlichende Gesellschaft dieser Erde, die dies nicht mit aller Kraft verdunkeln muß, und vermutlich keine Künstlerin, die dies genüßlicher, unaufgeregter und formmächtiger ans Tageslicht zurückholt als Elfriede Jelinek.  

Und so sind – trotz der Schwierigkeiten der Übersetzung – wohl jene ihrer Werke die wirkmächtigsten, die über den etwas wehleidigen Österreichbezug hinausweisen, in denen sich also das amerikanische Kleinbürgertum ebenso wiederfinden kann wie das der Tiefebenen von Tiflis und St. Pölten (Jelineks exemplarischer Roman Die Liebhaberinnen wurde vor kurzem ins Georgische übersetzt).  

Wie heuchlerisch nimmt sich da die Befürchtung der FPÖ-Kulturfunktionärin Helene Partik-Pablés aus, der Nobelpreis könnte der Preisträgerin negatives Österreichbild in die Welt exportieren. Als wären es nicht Nestbeschmutzer wie Jelinek, die dieses einzig von seiner schrecklichen Vergangenheit zehrende Provinznest Österreich vor der völligen Bedeutungslosigkeit retten. Die konservativen Eliten dieses Landes sollten dankbar sein, so munter angebellt zu werden. Das verleiht ihnen einen Standortvorteil, den sie gar nicht verdienen. Die Schlaueren unter ihnen investieren in diese Kritik.  

Ein bewährtes Mittel der Kritikabwehr ist es, den Kritiker zu pathologisieren. Dabei dürfte Elfriede Jelinek nicht ganz unschuldig sein an ihrem Image der Übersensiblen, das sie in jedem ihrer Interviews jedoch gelassen und geistreich widerlegt. Da sie wohl zu spät erkannte, daß man im Kulturbetrieb, um Literatin sein zu dürfen, auch als Literatin posieren und sich mit allen gleichmachen muß, die mehr Pose als Literatur verkaufen, händigte sie der Öffentlichkeit zum Zweck des Selbstschutzes ihre Ehrlichkeit aus. Was für ein kapitaler Fehler! Die hatte nur darauf gewartet.  

Wer unerträgliche Wahrheiten kolportiert, gilt als unerträglich; wer dies auch noch in ausgefeilter künstlerischer Form tut, als selbstgefällig, und wer obendrein an beidem Spaß findet, als pervers. Darum auch die eidesstattlichen Erklärungen, die Künstlern abgezwungen werden, daß ihre Gesellschaftskritik nicht ohne die schwierige Kindheit in St. Corona am Wechsel oder sonstwo, ihr Nervenleiden oder ihren notorischen Männer- oder Frauenhaß gedacht werden dürfe und gefälligst in einer frei assoziativen Sprache zu verfassen sei, die den Kulturgourmet mit dem Wiedererkennungseffekt einer zur folkloristischen Phrase erstarrten Progressivität füttern soll.  

Was aber, wenn jemand wie Jelinek die literarische Avantgarde vor dekorativer Willkür rettet und obendrein die Frechheit besitzt, das mit sprachlicher Präzision, Gedankenschärfe, Smartness und bodenloser Phantasie zu tun? Man erklärt kurzerhand den Tag zur Nacht, das Meer zur Wüste und Elfriede Jelinek, wie Reich-Ranicki es tat, zur »höchst nervösen, sehr empfindlichen und sensiblen Frau«. Weil sie uns den heiß begehrten psychologischen Roman verweigerte, mußten wir sie zwangspsychologisieren.  

Noch bevor sich die Preisträgerin zu Wort melden konnte, betätigten sich die Medien als Psychodiagnostiker, so z. B. am Tag der Jury-Entscheidung in einem ORF-Magazin mit dem bedrohlichen Titel »Willkommen Österreich«, wo ein zum Aquariumswärter avancierter Heinz Sichrovsky über »Elfriedes« Seelenzustand referierte, als handele es sich bei ihr um ein an Trübsal erkranktes Exemplar einer aussterbenden Walart.  

Die große Satirikerin scheut die Öffentlichkeit zu Recht, so lange diese es an Respekt vor ihr fehlen läßt. Elfriede Jelineks Werke zählen zu den wenigen deutschsprachigen, die mich zum Lachen reizen. Ich brauche bloß wahllos in Burgtheater blättern oder in der (von Michael Haneke in ein französisches Rührstück umgefälschten) Klavierspielerin und dort Sätze lesen wie »Kaffeefrech sitzt die Mutter in der Wohnküche und träufelt ihre Befehle herum«, oder von den vierzehnjährigen Mädchen, »die noch mit dem Schrecken der Welt kätzchenartig herumspielen, bevor sie selbst ein Teil des Schreckens werden« – und schon kann ich mich nicht mehr halten, in der freudigen Hoffnung, der Autorin ging es bei der Niederschrift nicht anders.  

Die Verleihung des Literaturnobelpreises an Elfriede Jelinek ist wahrscheinlich das größte Mißverständnis in der Geschichte der Kulturindustrie, aber das wunderbarste.  

Richard Schuberth