Mit Sicherheit in den Polizeistaat

Über ein Thema mussten die Parteien im Bundestagswahlkampf nicht streiten: die Durchsetzung von »Recht und Ordnung«. Von Kay Sokolowsky

Angesichts desaströser Umfragewerte und mangels einer guten, geschweige besseren Idee versuchte es die CDU kurz vor der Bundestagswahl mit den ältesten Heulern im Partei-Repertoire. Nur die Union könne eine kommunistische Machtübernahme sowie eine Inflation von Raub und Mord noch verhindern. Anfang September veröffentlichte die Partei der Maskendealer und Lobbyschieber einen Werbespot, der in gebrochenem Deutsch fragte: »Für mehr Sicherheit in Deutschland: Was brauchen wir?« Dass die Antwort nicht: »Weniger prügelnde Bullen« lautet, versteht sich bei der CDU von selbst.

Denn was sie »Recht und Ordnung« nennt, hieß immer schon: ordentlich die Bürgerrechte beschneiden. »Mehr Videoschutz an öffentlichen Gefahrenorten« soll es richten, obwohl zum Beispiel die flächendeckende Videoüberwachung in England nachweislich noch nie ein Verbrechen verhindert hat. »Gesichtserkennungssoftware zur Fahndung nach Schwerkriminellen und Terroristen« müsse her und also das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in den Schredder. Wer aber gegen das anlasslose Ausspionieren auf die Straße geht, soll bloß nicht wagen, sich gegen Schikanen der Demo-Polizei zu wehren, denn mit der CDU gäbe es künftig »härtere Strafen für Angriffe gegen Polizistinnen und Polizisten«. Dann wird wohl der Pranger oder gleich der Galgen fällig.

Auf die gleichermaßen nutz- wie hirnlosen Vorschläge zwecks »mehr Sicherheit« sattelten die Unions-Strategen einen lachhaften Vorwurf an die Sozialdemokratie: »Und was sagt das SPD-Programm zu all diesen Punkten? NICHTS.« Warum aber sollte das Programm etwas fordern, was SPD-Politiker längst in die Tat umsetzen, und zwar in schönster Harmonie mit ihren CDU-Koalitionskumpanen? Wie Benjamin Derin in konkret 9/18 detailliert ausführte, haben die Regierungen aller Bundesländer »Polizeiaufgabengesetze« (PAG) in Planung oder bereits erlassen, die durch eine »massive Ausweitung von Befugnissen zu einer Kompetenz- und Machtbündelung bei der Polizei« führen.

Natürlich spielen auch die Grünen bei der Polizeistaatsgesetzgebung mit: In Baden-Württemberg etwa sind »intelligente« Videoüberwachung, Trojaner-Malware und elektronische Fußfesseln legitimiert, in Hessen braucht es keinen Gerichtsbeschluss, um eifrigen Fahndern Online-Durchsuchungen oder die Erteilung von Kontaktverboten zu genehmigen. Die Maxime hinter sämtlichen Novellierungen der PAG heißt »präventives Polizeirecht«. »Was auf den ersten Blick nicht allzu dramatisch anmutet, stellt tatsächlich einen fundamentalen Umbruch im Verständnis polizeilichen Handelns dar«, so Derin. Alles irgendwie suspekte Verhalten kann zum Anlass polizeilicher Zwangsmaßnahmen werden.

Um Verbrechen zu verhüten, ist mit den neuen PAG fast jedes Mittel gestattet, auch die bloße Behauptung, es wolle jemand etwas verbrechen. Die Befürworter des »präventiven Polizeirechts« sehen im Staatsinsassen keinen Menschen mit Rechten, sondern einen potentiellen Rechtsbrecher. Als »Gefährder« gelten unter solchen Bedingungen prinzipiell alle Bürger, solange sie ihre Unschuld nicht beweisen. Diese Abschaffung aufgeklärter Rechtsprinzipien ist ein Kennzeichen des Polizeistaats und der feuchte Traum aller »Ordnungspolitiker« von Wolfgang Schäuble über Alice Weidel bis Olaf Scholz.

Gegen die Bedrohung für die »Zivilgesellschaft«, die sich hier manifestiert, gab und gibt es Proteste, doch keine massenhafte Mobilisierung. Nur in München, wo unter Markus Söder das mit Abstand schlimmste PAG ausgebrütet wurde, fanden 2018 zwei große Demonstrationen statt. Die alles beiseite drückende Präsenz der Sars-Cov-2-Pandemie und die autoritären »Maßnahmen« im Zuge der Seuchenbekämpfung haben das ohnehin geringe Bewusstsein für die legalisierte Entrechtung durch die neuen PAG weiter marginalisiert. Von dem Werbefilmchen der CDU abgesehen, spielte das, was für den Fetisch »Innere Sicherheit« geopfert respektive installiert wird, im Bundestagswahlkampf keine Rolle.

Auch den Verfassungsgerichten ist der Vorgang nicht so wichtig. Alle Beschwerden, die Bürgerrechtsorganisationen wie die Gesellschaft für Freiheitsrechte schon vor Jahren einlegten, gammeln auf den Akteneingangsstapeln vor sich hin. Dabei ist die Verfassungsfremdheit der neuen PAG mit Händen zu greifen. Sie laden zu antidemokratischem Missbrauch nicht nur ein, es ist ihr heimlicher Zweck. Johannes König vom bayerischen Bündnis #Nopag schrieb am 1. Februar 2021 im »Freitag«-Weblog: »Zusammen mit dem Konzept der ›Gefährlichen Orte‹ wird der Begriff der ›drohenden Gefahr‹ zu einem Werkzeug der vollständigen Überwachung der Zivilbevölkerung und hat längst nicht mehr den Charakter der reinen Gefahrenabwehr.« Sondern der Einschüchterung und Drangsalierung, nicht selten mit rassistischen Motiven. Seit Einführung des neuen PAG kam es in Bayern »zu hundertfachen Polizeirazzien in Unterkünften für Geflüchtete mit Tausenden von Identitätsfeststellungen ohne Anlass«, notiert König.

Wohin es führt, wenn die Ermittlungsbehörden nach Belieben freidrehen dürfen, muss die Studentin Lina E. seit bald einem Jahr erleben und in U-Haft erleiden. Aufgrund hanebüchener Indizien und dubioser Rechtsauslegung (siehe konkret 8/21) steht sie nun als »Anführerin einer kriminellen linksextremen Vereinigung«, vulgo: Terroristin, vor dem Oberlandesgericht Dresden. Eine Unschuldsvermutung gilt für sie nicht, die Vorverurteilung durch Qualitätsmedien wie »Spiegel« und »Focus« ist in vollem Gang. Undine Weyers, Anwältin eines der drei Mitangeklagten, konstatiert: »Dieses Verfahren ist ein Experiment: Wie weit kann man gehen?«

Pünktlich zum Prozessbeginn am 8. September wollte das auch Hamburgs Innensenator Andy Grote checken. Der SPD-Politiker ließ gleich sechs Polizisten zur Razzia im Morgengrauen ausrücken, weil er sich von einer infantilen Twitter-Frotzelei aufs schwerste beleidigt fühlt. Wie die CDU auf die Idee kommt, mit Polizeistaatsmännern à la G20-Grote sei »Sicherheit« in ihrem üblen Sinn nicht zu haben, weiß der Pimmel.

Kay Sokolowsky schrieb in konkret 9/21 über den »Weltraumtourismus«