Abgrenzungswahn und Mordgier

Der reaktionäre Kern der Identitätspolitik steckt schon im Begriff „Identität“. In konkret 9/92 hat Michael Scharang den nationalen Identitätswahn der 1990er Jahre zum Anlass genommen, den Terminus als Inbegriff des Stillstands und als Heiligtum des bürgerlichen Individuums zu entlarven.

 

Abgrenzungswahn und Mordgier  

Über das Geschwätz von der Identität. Von Michael Scharang  

I bin deri bin  
in mai mogn is nix drin  
waun in mai mogn wos drinwaa  
wari laichd a r aundara
Ernst Jandl

Nur im Gedicht gesteht derjenige, der behauptet, er sei, der er ist, auch ein, dass er diese Behauptung, die so anmaßend daherkommt, in Wahrheit aus Verzweiflung aufstellt, aus Verzweiflung darüber, ein anderer nicht sein zu können – nicht eines schicksalhaften Verhängnisses wegen, sondern aus purer Not: vor Hunger.  

Das Gedicht von Jandl »I bin deri bin« bringt die ganze Wahrheit ans Licht, die gewöhnlich vom Pathos der Identität – ich bin ich – im Dunkeln gehalten wird. Da die Wahrheit aber, selbst die ganze, nie ganz ist, wird es nicht schaden, ihr auch noch ein paar Überlegungen in Prosa anzuvertrauen.  

Außerhalb des Gedichts, im Alltag, ist von jemandem, der sagt: Ich bin, der ich bin, eine Einsicht, die darüber hinausgeht, nicht zu erwarten, ja, diese Worte drücken sogar äußerste Verhärtung gegen Erkenntnis, schon gar gegen Selbsterkenntnis aus. Schwingt in der Formulierung, dass einer ist, wie er ist oder was er ist, immerhin noch der Trotz der Selbstbehauptung mit, erschöpft sich der Satz, man sei, der man ist, in einer Aussage, die nicht nur nichts beinhaltet, sondern darauf auch noch stolz ist.  

Dem erwarteten Einwand, hier verkünde doch jemand, mit sich identisch zu sein, ist man geneigt, resigniert nachzugeben: Ja, leider, so ist es; hier pocht wieder einer, wie ohnedies schon jeder zweite, auf persönliche Identität, wobei er zwar nicht weiß, was er redet, um so deutlicher aber spürt, wie es ihn zu Höherem drängt. Die Resignation rührt daher, dass zur Zeit kein Begriff so erhaben ist über Kritik wie »Identität« und dass mit keinem anderen Wort so viel persönliches Wohlbefinden und allgemeines Wohlergehen assoziiert wird.  

Ob reich oder arm, ob links oder rechts, ob spießig konventionell oder alternativ angepasst, die Gesellschaft schart sich, ein neues Gemeinschaftsgefühl eintrainierend, derart eng um den neuen Götzen, die Identität, dass einem die Lust vergeht, die wieder einmal zum Volk sich zurückentwickelnde Bevölkerung mit der Ansicht zu inkommodieren, die Identitätssuche, zu der sie aufbricht, führe direkt zum ideologischen Räumungsverkauf; und dass einen, des weiteren, der Mut verlässt, das hierorts neu sich formierende Volk und die neu formierten Völker andernorts mit der Gewissheit zu konfrontieren, dass ihre neuen Gewissheiten: ihre neue nationale, politische, ethnische, religiöse und weiß der Teufel was noch für eine Identität, sich bloß zusammensetzen aus altem Abgrenzungswahn und uralter Mordgier.  

Doch schrickt der Widerspruchsgeist aus der Narkose, in die ihn der Weltzustand versetzt hat, auf, sobald er mit Ernst Jandls Vierzeiler in Berührung kommt, der, einem Pfeil gleich, ins geheimnislose Zentrum der Identität eindringt, so dass der Stoff, aus dem dieses Phänomen besteht, endlich für alle sichtbar nach außen quellen kann: ein Häufchen Dreck: Identität nichts als ein Zwangsprodukt aus Mangel und Not: Ich bin der ich bin/in meinem Magen ist nichts drin/wenn in meinem Magen was drin wär/wär ich leicht ein anderer.  

Hegel hat die Inhaltslosigkeit des Identitätsprinzips A ist gleich A entlarvt; dieses Prinzip sei »nichts weiter als der Ausdruck der leeren Tautologie«, die Wahrheit sei vollständig »nur in der Einheit der Identität mit der Verschiedenheit«. Den Identitätsfetischisten wirft er vor, nicht zu erkennen, was hinter ihren eigenen Behauptungen stecke, hinter den Thesen, »die Identität sei nicht die Verschiedenheit« und »die Identität sei verschieden von der Verschiedenheit«, nämlich: »dass die Identität ein Verschiedenes ist«. Wenn jemand seine persönliche Identität gefunden zu haben glaubt und sie mit dem Satz proklamiert: Ich bin ich, so lässt sich diese Inhaltslosigkeit nur noch vertiefen durch eine andere: Ich bin nicht ein anderer. Würde derjenige sich aber statt auf die Suche nach der Identität auf die nach der Wahrheit machen, wäre er gut beraten, gemäß Hegels Einsicht, dass die Identität ein Verschiedenes ist, den Satz: Ich bin ein anderer als Wegzehrung mitzunehmen.  

Nicht von ungefähr handeln literarische Kunstwerke davon, dass Personen sich verlieren; das Gegenteil – sich zu finden – wäre ein erfahrungsloses, erkenntnisloses, lustloses Auf-der-Stelle-Treten. Ulrich, Musils Mann ohne Eigenschaften, weist deshalb den sogenannten persönlichen Geschmack von sich und schändet so ein Heiligtum des zur Selbstfindung verpflichteten bürgerlichen Individuums. Zwar lässt Ulrich den Geschmack des Vaters aus dem geerbten Haus entfernen, aber nicht, um einrichtend sich selbst zu verwirklichen; er überlässt es einem beliebigen Möbelhändler, beliebige Sachen in die Zimmer zu stellen: »Er war vom Mond zurückgekehrt und hatte sich sofort wieder wie am Mond eingerichtet.« Musils vergnüglicher Roman steht in dem Ruf, sperrig zu sein; die Selbstverwirklicher können inmitten des geschmackvollen Sperrmülls, in dem sie sich für die Ewigkeit einer Saison geistig entfalten, an diesem Buch kein Vergnügen finden.
 

Mit der nationalen Identität verhält es sich nicht anders als mit der persönlichen. Dass die Österreicher Österreicher sind, die Deutschen Deutsche, läuft auf einen Nonsens hinaus, dem nur noch der Unsinn standhält, der Österreicher sei kein Serbe, der Deutsche kein Pole. Sollte nationaler Konstellation überhaupt ein Interesse abzugewinnen sein, wäre dem Verdacht nachzugehen, ob der Österreicher Serbe, der Deutsche Pole sei. Eine solche Recherche könnte vielleicht, versprechen kann man es nicht, mehr zutage fördern als nationalen Plunder.  

Dieser Plunder erlebt zur Zeit allerdings eine phantastische Renaissance. Wenn er seine effektivste, die kriegerische, Gestalt auch in Osteuropa annimmt, der Herd des nationalen Identitätswahns liegt im Westen.  

Hier hieß es während des Kalten Kriegs, der äußere Feind, der Kommunismus, sei schlimm genug, man könne sich nicht auch noch einen inneren Feind leisten. Deshalb wurden dem einzigen Widerstandsversuch nach 1945, der sogenannten Studentenbewegung, zwei Bedingungen diktiert, unter denen er stattzufinden hatte: Der rechte Antikommunismus der Väter war von den Söhnen durch linken Antikommunismus zu erweitern; der wiederaufgebaute Krempel der Alten durfte von den Jungen kritisiert, musste aber von ihnen zugleich mit frischem Reformeifer belebt werden.  

So glatt das auch über die Bühne ging, der Aufstand, der bald seinen Einstand feierte, hinterließ doch einige äußerst unangenehme Abfallprodukte: Reste von Marx und der Kritischen Theorie. Die galt es in gesamtgesellschaftlicher Anstrengung zu beseitigen.  

Doch mit welcher Losung? Da die meisten reaktionären Schlagwörter noch gezeichnet waren vom Einsatz für den Nationalsozialismus, wurde, anfangs ohne sonderliche Zuversicht, eins aus dem vorigen Jahrhundert ausprobiert: Identität; der Kampfbegriff der Romantik in dem mittelalterlichen Turnier, das sie gegen die Klassik veranstaltete; der Kampfbegriff, wie man aus einem großen Essay von Peter Hacks weiß,in der Auseinandersetzung Jahn, Fichte, Schelling gegen Ascher, Hegel, Goethe.  

Vor eineinhalb Jahrhunderten wurde Identität mobilisiert als höhere Einheit, in der die Unterschiede aufgehen, gegen ein immer genauer unterscheidendes Denken, das sogar die Scheu ablegte, bestimmte Unterschiede als Widersprüche zu begreifen, gegen ein Denken, das einen zeitgemäßen Staat konzipierte, in dem allgemein geltende Gesetze zu erstreiten wären, und dem die romantische Rückphantasie einer Ständeordnung mitsamt den Privilegien der Stände ein Greuel war.  

Der Rückgriff auf die Identität, den die Restauration nach 1968 instinktsicher wagte, war ein voller, wenn auch kein billiger Erfolg. »Identität« existierte damals nicht einmal als Alltagswort, und selbst im philosophischen Seminar spielte dieser Begriff nur eine bescheidene Rolle. Um das Wort zu popularisieren, bedurfte es eines enormen Reklameaufwands. Das Unternehmen glückte aber auch deshalb, weil die Restauration sich nicht dumpf rückschrittlich gab. Die Richtung, in die zu gehen war, hieß ausdrücklich nicht: nach hinten, sondern: nach innen.  

Ein kleiner Wink des Trends, und wie immer waren es die Dichter und Denker, die sich zu allererst verzogen. Der Schriftsteller Handke, damals ein extrovertierter, publikumsbeschimpfender Radaubruder, verschwand sogar auf Nimmerwiedersehn in seinem Inneren. Und Helmut Qualtingers »Herr Karl« wurde nun erst wirklich verstanden. Hatten die Österreicher dem Stück bislang beglückt die Information entnommen, dass die kleinen Leute die größten Nazis waren, eine Botschaft, die dem Autor und Schauspieler den Ruf eines Volkskünstlers eintrug, galt jetzt als Lehre des Stücks, dass jeder, bevor er das Maul antifaschistisch aufreißt, mit dem Faschisten in sich fertig zu werden hat.  

Veränderung war durchaus noch an der Tagesordnung; doch ehe man sich einen Gedanken über Gesellschaftsveränderung anmaßte, musste man sich selbst verändern. Die sozialdemokratische Revolutionstheorie, dass die Revolution zu verschieben ist, sei es von heute auf morgen, sei es von außen nach innen, wurde endlich, erweitert um die christliche Botschaft, man möge vor dereigenen Tür kehren, zum Allgemeingut der klassenlosen bürgerlichen Gesellschaft, in der jeder auf die Suche nach sich selbst geschickt wurde, mit der Zusicherung, dass es dabei auf soziale Nebensächlichkeiten nicht ankomme.  

Bis heute ist der Zauber ungebrochen, der von dem Wort »Identität« ausgeht; es ruft eine Sehnsucht wach nach einer heilen Welt, die, wenn schon draußen nicht, so doch drinnen existiert, tief in der Person, tief in der Geschichte, tief im Volk. Und würde man bis zum unverdorbenen Ursprung gelangen, erschlösse sich, indem man von vorn beginnt, eine herrliche Zukunft.  

Identität ist Inbegriff des Stillstands: Stillstand beim utopischen Ursprung, hinter den es nicht weiter zurückgeht; Stillstand in der utopischen Zukunft, in der, da alle Hoffnung erfüllt ist, das Vergehen von Zeit keinen Sinn mehr hat. Utopie, der Zeitpunkt des Stillstands, ist der Identität, dem Ort des Stillstands, wesensverwandt.  

Im Beschwören von Utopie und Identität kommt die Todessehnsucht einer Erste-Welt-Gesellschaft zum Ausdruck, deren noch intakte Mitglieder, um intakt zu bleiben, fortwährend die Tatsache verdrängen müssen, dass ihre bloße Existenz in jeder Sekunde unzählige Menschenopfer fordert. Zugleich verdrängen sie die eigene soziale Lage; danach zu fragen, erscheint als obszön, muss man doch froh sein, in dieser und nicht in einer anderen Weltgegend zu leben.  

Ist die soziale Frage erst einmal tabu, ist der einzelne mit jener Ohnmacht geschlagen, derer es bedarf, um dem Weltlauf gewissermaßen mit vollem Bewusstsein ohnmächtig zusehen zu können. Der blinde Kreislauf, den man bereits für überwunden hielt, der sich aber nun als neue Weltordnung installiert, der blinde Kreislauf, davon zu leben, dass andere sterben, lässt einem nur eine Hoffnung: die auf den eigenen Tod, der, zumindest für einen selbst, diesen Kreislauf stoppt.  

Heutige Denkvorschriften, positives Denken genannt, lügen jene Todessehnsucht um in ein Bedürfnis nach persönlicher Identität. Dabei berührt die Lüge ungewollt die Wahrheit. Persönliche Identität wäre erreicht, wenn das Individuum mit seinem Innersten übereinstimmte. Nun hat sich dort aber der Wunsch, tot zu sein, eingenistet. Zudem hieß identisch sein immer schon: tot sein. Das ist der logischen Figur der Identität eingeschrieben: Nur im Tod stimmt das Ich vollkommen mit sich überein. Denn das lebende Ich bewegt sich mit jeder Gefühlsregung, mit jedem Gedanken, mit jeder Handlung von sich weg.
 

Die bürgerliche Losung: Lieber tot als rot spricht unmissverständlich aus, wie das Bürgertum die soziale Frage, sollte sie praktisch gestellt werden, zu beantworten gedenkt. Zwar wird Selbstentleibung nicht ausgeschlossen, doch der Weg bis dahin zieht sich; und er ist blutig. Die Losung kündet weiter von Verhältnissen, auf die das Bürgertum ebenso stolz ist, wie es sie bestreitet: dass man es sich in politischer Gleichheit wohnlich macht, dass deren Fundament aber die soziale Ungleichheit ist.  

Die Epoche der politischen Gleichheit, die bürgerliche, ist vorbei, auch wenn sie noch ein paar hundert Jahre dauern sollte. Sie hat an Gutem und Schlechtem nichts mehr zu bieten, was sie nicht schon geboten hat. Sie kann aber, obschon mehr tot als lebendig, nicht sterben, denn sie hat ihre Gegner dazu erzogen, sie nicht sterben zu lassen. Sie lehrte sie, dass mit ihr die größte Errungenschaft der Zivilisation, der Rechtsstaat, stürbe. Mit ihm, dem Rechtsstaat, gingen auch ihre Gegner unter.  

Weil diese Argumente etwas für sich haben, bleibt das wichtigste Argument unausgesprochen: Der bürgerliche Rechtsstaat bedroht, da er auf sozialem Unrecht basiert, sich selbst am meisten. Er hat in diesem Jahrhundert auch schon einige Male Hand an sich gelegt und blieb nur deshalb nicht als Opfer auf der Strecke, weil seine Opfer ihn retteten. Zu sehr hatten die das bürgerliche Lebensprinzip, den Tausch des Gleichen mit Ungleichem, die Wurzel sozialen Unrechts, als Gesetz des Lebens akzeptiert, um den bürgerlichen Rechtsstaat als einen Tausch zu durchschauen, bei dem man politische Gleichheit nur um den Preis sozialer Ungleichheit bekommt.  

Der Tausch des Gleichen mit Ungleichem, zu einer Art Naturrecht geworden, konstituiert das bürgerliche Individuum, das sich nur realisieren kann, indem es andere übertölpelt. Diesen Vorgang als Leistung darzustellen und die daran Beteiligten als Elite und nicht als Gauner, ist die Aufgabe der bürgerlichen Moral.  

Die Opfer hängen dieser Moral mitunter inniger an als die Täter. Warum sonst ersehnen die ständig Übervorteilten nichts mehr, als auch einmal jemandem eins auszuwischen. Selbst die Revolution, der Versuch, diesen Zuammenhang zu zerbrechen, muss sich so lange fragen lassen, ob sie ein guter Tausch sei, bis sie sich selber diese Frage stellt und sich damit aufgibt.  

Das bürgerliche Individuum, das im anderen nur jemanden sehen kann, den es übervorteilen muss, kennt deshalb nur sich selbst als Subjekt. Der Rest der Menschheit ist Objekt. Deshalb bleibt dem Subjekt keine andere Bewegungsform als die blinde Raserei, und dieserart begibt es sich, ohnedies schon allein, auch noch auf die Suche nach sich selbst. Dort findet es das schlechte Gewissen, Unrecht getan zu haben. Zugleich aber fühlt es sich im Recht, denn unter Recht versteht es Vorrecht und unter Gesetz etwas, das es kraft seiner Vorrechte beugen kann. Das bürgerliche Ich ist pathologisch ichbezogen, so dass es alles nur unter dem Gesichtspunkt des eigenen Nutzens betrachtet; einen Wert jenseits davon, einen Gebrauchswert, kann es sich nicht vorstellen.  

Das wirkliche Ziel des Bürgers, allein auf der Welt zu sein, ohne die schreckliche Konkurrenz all derer, die so handeln wie er, ist wirklichkeitsfremd, weil ohne die anderen keine Vorteile zu erwirtschaften sind. Die anderen aber immer nur als Konkurrenten oder als Ausgebeutete hassen und verachten zu müssen, ist kein befriedigendes Lebensgefühl. Deshalb steckt der Bürger sich einen Markt- und Verwaltungsbereich ab, den er Staat nennt, lieber noch Nation, innerhalb dessen er so tut, als wäre er mit allen gut Freund. Um so schrankenloser kann er seinem Hass anderen Nationen gegenüber nachgeben, wobei er die konkurrierenden ausländischen Bürger als Feinde der Kultur und der Zivilisation und die ausländischen Habenichtse als Untermenschen betrachtet.  

Weil der Bürger auf der Suche nach seiner Identität, auf dem Weg in sein Inneres, schon deshalb nicht weit kommt, weil dieses nicht tiefer ist als eine Pfütze, weitet er die persönliche zur nationalen Identität aus. Das triviale Geschäft, den anderen zu übervorteilen, wird außerhalb der Landesgrenzen heroisch: Endlich kann man tun, was man sich schon immer gewünscht hat: den anderen erschlagen. Der Bürger fühlte sich denn auch aufs äußerste provoziert, als die Oktoberrevolution mit Weltfrieden drohte. Und so lautete die Antwort: Weltkrieg. Schnell war ein Führer gefunden, der nur eines glaubwürdig versichern musste: dass er um jeden Preis Krieg wollte. Das Pech: die ausländische Konkurrenz.
 

Nun ist, ohne Führer zwar, aber immerhin unter deutscher Führung, der erste Anlauf zu einem Sozialismus gestoppt, und das Experimentierfeld, auf dem eine Lebensweise ausprobiert werden sollte, die das alte soziale Unrecht überwindet, droht zu einem Feldlazarett zu werden.  

Der Westen überredet den Osten zu seinen Werten und schaut fasziniert zu, was aus Menschen wird, wenn man ihnen nur den ideellen Wertteil zur Verfügung stellt, den materiellen aber vorenthält, Kapitalismus also ohne Kapital, bürgerliche Demokratie ohne Bürgertum.  

Der Schwindel wäre längst aufgeflogen, hätte der Westen nicht zumindest einen konkreten Wert exportiert: die nationale Identität. Der volle Magen scherte sich nicht um Nationalität; der leere braucht alle Identitäten, von der nationalen über die ethnische bis zur religiösen; das macht zumindest Wut im Bauch. Dazu kommt der Zorn, auf falsche Versprechungen hereingefallen zu sein. Doch es gibt kein Zurück. Den falschen Versprechungen folgen leere, und so setzt man nun aufs Selbstbestimmungsrecht der Völker, auf den Vorschlag der westlichen an den Rest der Welt, sich doch selbst umzubringen.  

Dieser wahnwitzige Rückschritt ins Nichts, in eine Marktwirtschaft ohne Markt, dieser Rückschritt, der vom österreichischen Außenminister Mock, dem zur Zeit größten Kriegshetzer der Welt, treffend als »großer Fortschritt nach vorn« bezeichnet wurde, bringt eine barbarische Form der Zivilisation hervor, den zum Wirtschaftssystem deklarierten Raubmord. Wenn man sich nur noch ernähren kann, indem man den anderen überfällt, müssen immer neue und immer kleinere Gruppen sich als neue nationale oder ethnische oder religiöse Identitäten konstituieren; die Gruppe, von der man sich heute abgrenzt, wird morgen beraubt.  

Dass der Westen dabei tatenlos zusieht, ist eine Lüge. Er versteht die von ihm initiierten Kriege als seine Manöver; wenn dort die Erde verbrannt ist, tritt hier der Ernstfall ein. Der Weltmarkt wird durch die Verwüstungen, die er anrichtet, immer kleiner, die Konkurrenz immer größer. Wie sie am besten zu schlachten sein wird, wird an den jetzigen Schlachten studiert. Der Bürger, auf der Suche nach seiner Identität, stößt immer nur auf den Tod.