Täve Schur zum 90.

Der ehemalige Radrennfahrer Gustav-Adolf »Täve« Schur, mehrmals »Sportler des Jahres« in der DDR und Gewinner der Weltmeisterschaft der Amateure 1958 und ’59, wird heute 90 Jahre alt. konkret gratuliert und erinnert sich mit Freuden an ein Gespräch über Spitzensport im Kapitalismus, das wir 2013 mit ihm führten.

konkret: Herr Schur, wir zeichnen das Interview auf und senden Ihnen den Text zur Autorisierung als E-Mail. Einverstanden?  

Schur: Nein, senden Sie’s per Fax! Bloß nicht per E-Mail! Die Amerikaner hängen überall dazwischen, die hauen mir glatt per Drohne auf ’n Kopp.  

konkret: (Lacht.) Gut, also als Fax.  

Schur: Ja. Na, dann hauen Se mal druff!  

konkret: Sie sind mittlerweile 82 Jahre alt. Fahren Sie eigentlich noch Rad?  

Schur: Na klar. Ich bin vor zwei Tagen im Erzgebirge gefahren, 55 Kilometer durch die Berge gehirscht.  

konkret: Ohne Zusatzstoffe? Es hat ja vor allem nach dem Mauerfall verschiedene Kampagnen gegen den DDR-Sport gegeben. Wie haben Sie das damals erlebt?  

Schur: Der Kinkel hat als Justizminister gleich nach der sogenannten Wende in einer Ansprache vor Juristen verlangt, dass man die DDR delegitimieren müsse. Und dann wurde alles, was marode war in der DDR, gezielt gesucht und uns in die Hacken geschoben. Das galt eben auch für den Sport. Und es hatte natürlich damit zu tun, dass wir ihnen damals laufend bei Olympischen Spielen, Weltmeisterschaften und dergleichen den Arsch vollgehauen haben. Und deswegen durfte dann eben kein gutes Haar mehr gelassen werden an allem, was wir damals auch hatten.  

Wissen Sie, die DDR-Sportler wurden systematisch und langfristig aufgebaut. In der DDR gab es gut ausgebildete Sportlehrer, man hatte den Sport von ganz unten, vom Kindergarten an entwickelt. Die Zielstellung war, einen gesunden und gebildeten Menschen zu erziehen. Und aus diesem ungeheuren Aufwand in den Schulen, in den Trainingszentren, in Kinder- und Jugendsporteinrichtungen gingen dann natürlich große Sportlerinnen und Sportler und absolute Könner hervor. Wenn man den Menschen zu besonderen sportlichen Leistungen führen will – ob das nun in dieser Form überhaupt wünschenswert ist, steht auf einem anderen Blatt –, dann war der Weg, den die DDR mit ihrer Sportförderung beschritten hat, der richtige. Und nach der Wende musste nun dieses System verteufelt und mit allerlei Aufwand als menschenverachtend dargestellt werden.  

konkret: Sie waren damals selbst von den Anfeindungen betroffen, als einige DDR-Doping-Opfer verhindern wollten, dass Sie in die »Hall of Fame« des deutschen Sports aufgenommen werden. Die schrieben damals in einem Protestbrief, Sie seien »sowohl hochdekorierter Sportheld wie zentrale Propagandafigur des kriminellen DDR-Sports« gewesen.  

Schur: Wissen Sie, da müssen wir aufpassen. Ich kenne diese Leute, und die lassen sich eben auch zu den gerade erwähnten Zwecken benutzen. Ich habe damals, als es um diese »Hall of Fame«-Geschichte ging, gemeinsam mit einem Freund eine Broschüre erstellt, die wir dann in Berlin vorgestellt haben. Nachdem wir schon eine Weile geredet hatten, standen auf einmal zwei Leute aus dem Publikum auf, und der eine von denen rief laut durch den Saal: »Ich bin zu DDR-Zeiten schwer gedopt worden!« Und dann hielt er beide Hände auf: »Ich habe solche Klumpen Blut gespuckt.« Ich dachte, der hat doch ’ne Meise! Wie sich im nachhinein herausstellte, ist der geschickt worden, um gezielt zu provozieren.  

Ich bin mal gespannt, ob sich diese Leute jetzt mit der gleichen Intensität den westdeutschen Doping-Opfern zuwenden. Ich würde es mir jedenfalls sehr wünschen. Der westdeutsche Sport hat ja nachweisbar fünf Doping-Tote gefordert. Und ich möchte sehen, ob sich jemand dafür einsetzt, dass die westdeutschen Doping-Opfer entschädigt werden.  

konkret: Die aktuelle Studie, die sich mit Doping in Westdeutschland seit den fünfziger Jahren befasst, kennen Sie?  

Schur: Ja, und da kommt ein ganzer Haufen Leute drin vor, zum Beispiel Schäuble und Genscher und so weiter.  

konkret: Und es wird belegt, dass in der BRD systematisch und auch mit staatlicher Unterstützung gedopt wurde. Überrascht Sie das?  

Schur: Was mich überrascht, ist, dass diese ganzen Vorgänge so lange unter dem Deckel gehalten werden konnten. Man muss sich das vorstellen, da ist ein unheimlicher Forschungsaufwand betrieben worden, und es wurde wahnsinnig viel Geld ausgegeben. Die haben ja 330 Mitglieder der Mannschaft, die die BRD 1976 zu den Olympischen Spielen geschickt hat, 1.200mal gespritzt. Hören Sie auf! Aber all das liegt eben in der Gesellschaft begründet. Es geht auch im Sport nur noch ums Geld. Das hat mit einem fairen und gerechten Wettkampf schon lange nichts mehr zu tun.  

konkret: Der frühere Weltklasseläufer Franz-Josef Kemper hält die Dimensionen des westdeutschen Dopings in den siebziger und achtziger Jahren für weitreichender als diejenigen zur selben Zeit in der DDR. Glauben Sie das auch?  

Schur: Das kann ich mir schon vorstellen. Es ist eben so, dass wir – und zwar nicht erst seit heute – in einem System leben, in dem es auf den einzelnen Menschen überhaupt nicht mehr ankommt. Es zählen Erfolge, Rekorde, Medaillen und die Werbe- und Sponsoreneinnahmen, die dahinterstehen.  

konkret: Glauben Sie, dass es überhaupt möglich ist, unter den Bedingungen des Spitzensports ohne Doping mithalten zu können?  

Schur: Im Höchstleistungsbereich wahrscheinlich nicht. Was jetzt schon wieder an Rekorden gelaufen und geschwommen wird! Ich kann mir kaum vorstellen, dass man da nicht nachgeholfen hat. Es werden ja auch immer wieder neue Substanzen entwickelt.  

Als ich damals einige Zeit im Sportausschuss des Deutschen Bundestags gesessen habe, da haben wir gezielt die Frage gestellt, wieviel Anabolika und Amphetamine die Pharma-Industrie herstellt. Da sagten die: etwa sechs Tonnen. Das müssen Sie sich mal vorstellen! Da muss man sich schon fragen, wo das ganze Zeug bleibt.  

Diese ganze Dopinggeschichte muss natürlich im Zusammenhang mit der Gesellschaft gesehen werden, in der sie stattfindet. Man müsste bei diesem Thema übrigens auch darüber reden, was überhaupt, eben nicht nur im Sport, die Menschheit in sich hineinstopft, um immer leistungsfähiger zu werden. Der Kapitalismus macht die Menschen eben auf ganz unterschiedlichen Wegen kaputt.

Foto: Bundesarchiv, via Wikimedia Commons