Facts and Fiction

Wie ist es um die bürgerliche Demokratie und den Bewusstseinszustand ihrer Vertreter bestellt, wenn nun auch Fakten für etwas gelten, worauf man sich zu einigen habe? Von Ilse Bindseil

„… dass man sich nicht auf Fakten einigen kann, wie zum Beispiel, wer die Wahl gewonnen hat.“ Diese Auskunft des Politikwissenschaftlers Sascha Lohmann aus der schriftlichen Fassung eines „Tagesschau“-Interviews vom 7. Januar 2021 ist erstaunlich. Haben Fakten nicht wenigstens dies Gute, dass man sich nicht auf sie einigen muss? Ist an einer Wahl, zumal wenn sie im Gewand der Stichwahl daherkommt, nicht alles mögliche problematisch, nur nicht das Faktum, wer sie am Ende gewonnen hat? Lohmann benennt in diesem Satz „grundsätzliche Probleme dieser Demokratie“, natürlich der US-amerikanischen, und bringt sie auf den Punkt: „Es gibt keine gemeinsame Objektivität …“ Probleme einer Demokratie sind es, weil alle per Wahl mitreden können. Probleme „dieser Demokratie“, könnte man ausführen, sind es, weil die US-amerikanische zwar zu allem möglichen, Patriotismus und Unabhängigkeit, aber nicht zur Demokratie erzieht. Sie ist ein Lassen, kein Sollen.

In einem autoritären Staat hieße der Satz: „Dass man sich nicht auf Versionen einigen kann, wer zum Beispiel die Wahl gewonnen hat.“ Vertraut mutet er an, widerspruchsfrei und richtig, so als sei er die Urform des eingangs zitierten Satzes. In einem autoritären Zusammenhang ist das einzig valide Faktum die Macht. Sie gibt Versionen heraus, die in ihrem Herrschaftsbereich das Gewicht von Fakten haben. Gibt es Streit über die Version, deutet dies auf eine Erschütterung der Macht, wie Lohmann sie an der US-amerikanischen Demokratie diagnostiziert.

Aber was an der Demokratie ist erschüttert, wenn „man sich nicht auf Fakten einigen kann, wie zum Beispiel, wer die Wahl gewonnen hat“? Die Antwort ist stets: der Konsens. Er bezieht sich bekanntlich nicht auf Inhalte – ob man die Steuern erhöhen oder senken, sich an einem UN-Einsatz in Kampfgebieten beteiligen, das Grundgesetz ändern soll −, sondern auf die Regularien, nach denen verfahren wird. Sie so zu respektieren, als wenn es Inhalte wären, setzt Einigkeit darüber voraus, dass, da über Inhalte nie ein Konsens erzielt werden kann, ein in einem bereits hochformalisierten Verfahren erreichter Mehrheitsbeschluss von allen getragen werden muss. Der Mehrheitsbeschluss pur ist die Wahl.

Wer den Konsens aufkündigt, hat den Glauben an das Verfahren verloren, weil er in seinem Verhältnis zu Formalien entweder einen Schritt zurück zu unverrückbaren Gesinnungen und Überzeugungen oder einen Schritt nach vorn in den Bereich der reinen Manipulation gemacht hat, die sowohl dem Gegner unterstellt als auch für die eigene Praxis nutzbar gemacht wird. Diese an sich höchst widersprüchlichen Haltungen werden in der Gestalt des charismatischen Anführers vermittelt, der, in jeder Hinsicht doppelt gestrickt, als Garant und bildhafter Ersatz einer handfesten Überzeugung über der armseligen Zahl steht, sie sowohl abtun als auch, wie man so sagt, meisterlich handhaben kann.

So weit, so politologisch.

„Dass man sich nicht auf Fakten einigen kann, wie zum Beispiel, wer die Wahl gewonnen hat“, ist aber nicht nur die Kurzfassung einer Abhandlung über die Demokratie. Die Mischung aus Zynismus und Verzweiflung, die aus dem Satz spricht, entsteht aus dem Wechselspiel zwischen „Fakten“ und „Wahlen“, die, um es pathetisch auszudrücken, eines des anderen Abgrund sind. Fakten sind eine Sache für sich – auch in einer Demokratie sollte man sich nicht auf sie einigen müssen. Da sie nicht nur einen Sinn haben, sondern Sinn stiften, spricht man in ihrem Zusammenhang gewöhnlich nicht von Einigung, sondern von Anerkennung. Wahlen mögen das Irrationalste von der Welt sein, ihr Ergebnis – „wer die Wahl gewonnen hat“ – ist ein Triumph der Zahl in der elementarsten Form der Grundrechenarten: dem Zählen.

Die Zahl ist der faktischste aller Fakten. Man kann sie nicht deuten, man kann sie nur bestreiten. Indem man sie bestreitet, entzieht man sämtlichen Formalisierungsprozessen, die zu ihr führen, den Boden. Man könnte hinzufügen, der Formalisierung entzieht man den Boden, hätte nicht ausgerechnet die Verweigerung der Anerkennung selbst einen hochformalen Charakter. Nicht das Zählen, sondern die Zahl wird bestritten: eine andere Zahl soll sie ersetzen. Im Grunde ist die Fixierung auf die Formalien bei denen, die ihre Richtigkeit bestreiten, größer als bei ihren Gegnern. Sie selbst sind die richtige Zahl, die durch Akklamation würdiger als durch kleingeistiges Zählen ermittelt wird. Sie sind ein „Sechser im Lotto“.

Die desaströse Erfahrung, „dass man sich nicht auf Fakten einigen kann, wie zum Beispiel, wer die Wahl gewonnen hat“, verdeckt das Alltägliche daran. Nicht nur klafften schon beim Wahlsieg Trumps Zahlen und Zählverfahren so weit auseinander, dass eigentlich Hillary Clinton die Wahl gewonnen hatte. Zum institutionell eingebauten Betrug tritt, weitaus bedeutsamer, der informelle. Er wird durch Statistik sicher noch unzureichend gespiegelt, wenn sie die möglichen Wähler gegen die Wahlberechtigten aufrechnet und die Proportionalität der Wahlbeteiligungen ermittelt. Dabei geht es um machtgestützte Prozesse, die den Wahlen vorausgehen, nicht ihnen folgen. Den reinen Ergebnissen sind sie durch ihren Realismus überlegen. Geht eher die Bindung an die Realität verloren, als dass die Machtverhältnisse erodieren, dann öffnet sich die Schere zwischen jenen Fakten, die die Realität, und solchen, die die Debatte bestimmen, und die Einigung wird zum Problem. Sie bekommt unerhörtes Gewicht.

Stimmen die Wahlvoraussetzungen noch, fragt man sich, und wie soll man sich auf neue Voraussetzungen einigen, wenn die die Machtverhältnisse ändern, obwohl sie als bloß formale Voraussetzungen so etwas doch gar nicht können sollten? Stimmen die Ergebnisse? Scheinbar unanfechtbar, sind sie zugleich das schwächste Glied in der Beweiskette. Als ein bloßes Ergebnis des Zählens sind sie der Manipulation und Verachtung preisgegeben. Wer mit ihnen jonglieren kann und für wen sie ein Abrakadabra, ein Buch mit sieben Siegeln sind, wird sich gegen sie verbünden.

Ilse Bindseil schrieb in konkret 11/20 über Sinn und Unsinn der Rede vom „strukturellen Rassismus“