Wollt ihr den totalen Beethoven?

Vor 250 Jahren wurde Ludwig van Beethoven geboren. Er war nicht nur zu Zeiten des Nationalsozialismus der meistgespielte Komponist, er ist es bis heute in Deutschland. In konkret 2/20 schrieb Berthold Seliger über die nationale Vermarktung eines Jubiläums.

Hurra, das Jubeljahr ist da-da-da-daaa! Beethovens Geburtstag jährt sich zum 250. Mal, und alle tun mit (so auch yours truly und dieses Magazin). Während sie sich in Berlin das Signet »#bebeethoven« ausgedacht haben, nennt sich der Geburtsort »Beethovenstadt« und wirbt mit dem Slogan »Freude. Joy. Joie. Bonn«. Dort ist auch die »bisher größte kulturhistorische Ausstellung« namens »Beethoven. Welt. Bürger. Musik« zu sehen, ergänzt durch eine »erlebnisorientierte« Schau im Beethoven-Haus. Selbst wenn Kraftwerk im Frühjahr auf der Bonner Hofgartenwiese auftreten, wird das zu einem Ereignis der »BTHVN2020«-Reihe hochgejazzt. Die Marketingprofis kennen keine Gnade. »Das Beethoven-Jubiläum muss national und international genutzt werden, insbesondere in der Tourismuswerbung«, und »Bonn muss im Mittelpunkt des nationalen Jubiläumsjahres stehen«, tönt der Verein Bürger für Beethoven. Wäre doch gelacht, wenn man Salzburg mit seiner Mozartkugel nicht eins auswischen könnte.

Wer noch nicht genug hat, kann an einem »Beethoven Pastoral Project. A Global Statement for the Preservation of Nature« oder an einem »World Beathoven Project« teilnehmen, »Beethoven meets Cuba«-Konzerte besuchen oder unter zahllosen CD-Veröffentlichungen wählen. Die Musikindustrie hat aus ihrem Backkatalog so manches Päckchen geschnürt: von »Beethoven komplett« (85 CDs) über eine »Complete Edition« (90 CDs) bis zur »New Complete Edition« des Renommierlabels Deutsche Grammophon (118 CDs) – so etwas schenkt der Zahnarzt seiner Familie. Wer’s billiger mag, greift zum »kompakten Doppelalbum« »The Very Best of Beethoven«, auf dem alles drauf ist, was des Bildungsbürgers Herz begehrt: »Mondscheinsonate«, »Schicksalssymphonie«, »Eroica«, »Für Elise« – das dürfte auch Sahra Wagenknecht gefallen, die sich, wie sie der »Zeit« verraten hat, von ihrem Mobiltelefon mit der »sanften, geradezu zärtlich umarmenden Melodie von ›Für Elise‹« wecken lässt.

Das Jubiläum ist als »nationales Ereignis mit internationaler Strahlkraft« konzipiert, wie die eigens von der Bundesregierung, Nordrhein-Westfalen, dem Rhein-Sieg-Kreis und Bonn gegründete und mit üppigen 30 Millionen Euro von der Bundeskulturpolitik alimentierte Firma Beethoven-Jubiläums-Gesellschaft verlauten ließ. »Unser Beethoven« als »nationale Aufgabe«, wie Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) beschwört und wie im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD von 2013 zu lesen ist. Wollt ihr den totalen Beethoven? Könnt ihr haben, bei Arte: »Beethoven total«. Die Sinnstiftungsmaschine arbeitet auf Hochtouren, und die einschlägige »Armee von dienstbaren Intellektuellen« (Alain Badiou in anderem Zusammenhang) schüttet die Feuilletons mit Besinnungsaufsätzen zu und fabriziert Titelgeschichten auf Kindergartenniveau (»Spiegel«: »Ein Popstar wird 250«).

»Bekanntlich kommt für die meiste Musik, die etwas taugt, einmal der fatale Zeitpunkt, wo sie sich … ›durchsetzt‹, also ihre revolutionäre Funktion einbüßt und zum Kulturgut neutralisiert wird«, schrieb der Komponist und Musikwissenschaftler Heinz-Klaus Metzger im Band Beethoven ’70. Beim großen Jubiläum 1970 stand der Komponist längst auf allen möglichen und unmöglichen Denkmälern, war vom Kulturbetrieb (dem des Nationalsozialismus wie dem des Adenauer-Deutschlands) vereinnahmt worden und diente der Selbstvergewisserung der Bourgeoisie wie der Mächtigen. Damals wies Metzger darauf hin, dass die »gesellschaftliche Einrichtung« namens »offizielles Musikleben« vornehmlich dazu dient, die »Widerborstigkeit der besseren Werke« zu glätten und sie »im Interesse des Fortbestehens der herrschenden Verhältnisse« so zu interpretieren, dass sie »dem Hörer nahegebracht« und zum Teil einer »positiven Welt« werden. Diese generalstabsmäßig geplante »Entleerung« glaubt das ideelle Moment in Beethovens Tonsprache »vernachlässigen zu müssen, allem sogenannten ›Nichtmusikalischen‹ misstrauend« (der Musikwissenschaftler Harry Goldschmidt). Aus dem Revolutionär, der eine andere Gesellschaft gefordert hat, wird ein »Rebell« (»Zeit«).

 

Das musikalische Programm des Idealismus

Der Dirigent Rainer Riehn hat darauf hingewiesen, dass »in Deutschland die Tempi, solange noch Hoffnung auf die Revolution bestand, geschwinder waren als danach«. Beethovens Sinfonien wurden nach 1848 langsamer dirigiert als von den vormärzlichen Kapellmeistern, insbesondere von Herbert von Karajan während der Adenauer- und Erhard-Jahre.

Das Land, in dem die Herrschenden (seien es Feudalherren, seien es Sozialdemokraten) Revolutionen stets verhindert haben, feiert 1989 als »friedliche Revolution« – und die Musi spielt dazu: Es ist der Jingle aus den Werbespots der Automobilindustrie, der die Ode auf einen Schlager reduzierende »Song of Joy«.

Beethoven war nicht nur zu Zeiten des Nationalsozialismus der meistgespielte Komponist, er ist es bis heute – weit vor Mozart und Brahms. Gerade die Sinfonien mit dem ihnen eigenen Pathos eignen sich für besondere Gelegenheiten. Pathos ist wichtig, wenn es um etwas geht, in revolutionären Situationen, weswegen der Sympathisant der Französischen Revolution in seinen Orchesterwerken es immer wieder sucht, aber auch auflöst, denn zu seinen Neuerungen gehört die Erfindung der »Finalsinfonie«: dass also »das Ganze aufs Finale hin schießt« (Dirigent Michael Gielen). In den Revolutionssinfonien, der Dritten und der Fünften, kann man in den Schlusssätzen hören, wie die Menschen auf der Straße ihren Sieg feiern (Beethoven hat Instrumente der Freiluftmusik hinzugefügt, die bis dahin im Konzertsaal verpönt waren). Diese Werke erheben »Einspruch gegen die Welt, gegen das Bestehende« (Metzger).

Die Französische Revolution und ihre Grundmotive Freiheit und Gleichheit waren für Beethoven (wie für seinen Cojubilar Hegel) prägend: »Allein Freiheit, weitergehn ist in der Kunstwelt wie in der ganzen großen Schöpfung Zweck.« Sein Wahlspruch: »Freyheit über alles lieben; Wahrheit nie, (auch sogar am Throne nicht) verläugnen.« Beethoven formulierte das musikalische Systemprogramm des deutschen Idealismus vor allem in seinen Sinfonien, den »Volksreden an die Menschheit« (Adorno).

Bonn war zur Zeit der Französischen Revolution ein Vorposten der Aufklärung, und Beethoven hörte an der Universität Eulogius Schneider, der sich 1789 offen gegen die Kirche wandte, den Sturm auf die Bastille verteidigte und feststellte, dass der »ächte Adel nur durch Größe des Geistes und Güte des Herzens zu erlangen sei« – eine Formulierung, die Beethoven aufnahm. Er verstand sich als »Plebejer«. »Fürst, was Sie sind, sind Sie durch Zufall und Geburt, was ich bin, bin ich durch mich; Fürsten hat es und wird es noch Tausende geben; Beethoven gibt’s nur einen«, schrieb er 1806 selbstbewusst an seinen Geldgeber Karl Lichnowsky.

Natürlich stammte die Mehrzahl seiner Förderer und Auftraggeber aus der Adelsschicht. Das war mit dem Beginn der Zeitenwende, als Musiker zu selbständigen Unternehmern wurden, nicht anders denkbar. Auf der einen Seite war es ihnen endlich möglich, sich aus der Bevormundung von Hof und Kirche zu lösen. Doch das bedeutete gleichzeitig, dass sich Komponisten nun »auf etwas so Unklares und Uneinheitliches wie einen Markt einzustellen« hatten, wie der Musikwissenschaftler Peter Schleuning bemerkte. Das sich erst formierende bürgerliche Publikum wollte in Oper und Konzert unter-
halten werden, und die Komponisten mussten wittern, was gefragt war. »Sie mussten sich bis ins Innerste zu Organen des Marktes machen; dadurch drangen dessen De-
siderate ins Zentrum ihrer Produktion« (Adorno). Sounds familiar? Die Situation ist für Musiker*innen heutzutage wenig anders. Man würde sich von ihnen eine ähnlich selbstbewusste Haltung gegenüber Sponsoren und Finanziers wünschen, wie Beethoven sie zeigte.

Allerdings war das Dasein als freischaffender Komponist in Wien zu Beginn des 19. Jahrhunderts selbst für einen gefeierten Musiker alles andere als ein Zuckerschlecken. Als er 1800 im Wiener Burgtheater endlich »eine große musikalische Akademie zu seinem Vortheile geben« durfte, also ein Konzert, bei dem ihm die Einnahmen zuflossen, waren die »Billets bei Herrn van Beethoven, in dessen Wohnung im tiefen Graben Nro. 241 im 3ten Stock zu haben«. Das Renommee ging keineswegs Hand in Hand mit seinen Einnahmen und erst recht nicht mit seiner gesellschaftlichen Stellung.

 

Unsterbliche Geliebte

Das zeigt sich auch an seinen allesamt unglücklichen Liebesgeschichten. So gab er der kapriziösen Gräfin Giulietta Guicciardi, die 1800 16jährig die Wiener Gesellschaft im Sturm erobert hatte, Klavierunterricht und widmete ihr die »Mondschein-Sonate«. Sie sei »ein liebes, zauberisches Mädchen …, das mich liebt und das ich liebe«, schrieb er an ei-nen Freund, »leider ist sie nicht von meinem Stande«. Sie heiratete einen Aristokraten.

An wen auch immer der nie abgeschickte Brief »An die Unsterbliche Geliebte« adressiert sein mag (vermutlich Josephine von Brunsvik, deren Bruder, Beethovens Freund Franz, auf dem Standesgebot bestand), es gab für ihn kein Glück »von außen, du musst dir alles in dir selbst erschaffen, nur in der idealen Welt findest du Freunde«, wie er 1810 in einem Brief schrieb. Wenige Jahre später heißt es im Tagebuch: »Du darfst nicht Mensch seyn, für dich nicht, nur für andre; für dich gibt’s kein Glück mehr als in dir selbst in deiner Kunst.« Die »Tragik des biografischen Lebens erscheint hier als bedingende Gegenwelt zu ihrer Aufhebung in der Kunst«, fasst Goldschmidt zusammen. Man darf annehmen, dass der tragische Ausgang aller Liebesbeziehungen Beethovens Kunst nach 1812 ebenso in eine andere Richtung lenkte wie die gesellschaftlichen Zustände dieser Jahre: Metternichs reaktionärer Überwachungsstaat, der in der neu entstehenden Wiener Vergnügungsindustrie kulminierte, mit der Beethoven wenig zu tun hatte. Natürlich erschwerte ihm auch seine Taubheit das Leben. Die eigentliche Tragik dürfte aber darin liegen, dass er der Klassengesellschaft ausgeliefert war. Beethoven blieb lediglich eine tatsächlich unsterbliche Geliebte: die Musik.

 

Bum bum oder: Das große Finale

Wenn von der Neunten die Rede ist, ist allgemein nicht die gesamte Sinfonie, ja, nicht einmal der komplette letzte Satz gemeint, sondern das Chorfinale, die »Ode an die Freude«. Die Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte zeigt, wie sich die Komposition verändert hat. Die Neunte, die wir heute hören, ist ganz sicher nicht mehr die Neunte, die Beethoven im Kopf hatte und die 1824 uraufgeführt wurde. Seit 1793 hatte Beethoven den Plan, Schillers Ode zu vertonen. Im Zentrum standen für ihn die Zeilen »Was der Mode Schwert geteilt / Bettler werden Fürstenbrüder«. Das Schwert steht dafür, die Revolutionsforderungen »Fraternité« und »Egalité«, wenn nötig, auch gewaltsam durchzusetzen.

Die erste systemtreue Verharmlosung erfuhr die Ode 1803 durch Schiller selbst: Er strich die neunte Strophe und ersetzte die revolutionären Zeilen durch »Was die Mode streng geteilt / Alle Menschen werden Brüder«. Das kann auch die banale Parole einer konservativen Partei sein. Beethoven arbeitet 1812 und in den Folgejahren immer noch mit den ursprünglichen Zeilen. Gemeint war das Finale der Neunten als Utopie des radikalen Humanismus.

Der wenig beachtete erste Satz ist »so ungeheuerlich, mit solchen wahnsinnigen Konflikten, Aggressionen, Brüchen, Sprüngen, … da könnte auch drüberstehen: ›Der Mensch ist ein Abgrund‹, wie im Wozzeck« (Gielen). Beethoven schrieb in seinen Skizzen: »Dissonanzen vielleicht nicht aufgelöst oder ganz anders, da sich in diesen wüsten Zeiten unsere verfeinerte Musik nicht denken lässt.« Beethoven dürfte seine Sinfonie als »Kontestation des neuen reaktionären ›Zeitgeistes‹« (Goldschmidt) verstanden haben, um der Friedhofsstille der Restauration etwas entgegenzusetzen. Für Beethoven war Schillers Ode eine auf die Freiheit geblieben (Hanns Eisler hat darauf hingewiesen, dass Freude damals als Tarnbegriff für Freiheit diente). Der Komponist zweifelte durchaus, ob das Finale gelungen war. Er war da nicht allein: »Kaffeehausmusik« nannte es Leonard Bernstein, für Richard Wagner war es »der schwächste Teil der Neunten«, für Sergiu Celibidache »scheußlicher Salat«, und Adorno bemerkte lapidar: »Manche sehr großartigen Stücke Beethovens klingen aus der Entfernung nur bum bum.«

Derartige Einschätzungen sind sowohl dem Erhabenen und Feierlichen dieses Finales selbst geschuldet als auch dem Ge- und Missbrauch dieses Stücks im Lauf der Zeit. Andreas Eichhorn spricht in seiner bahnbrechenden (und vergriffenen) Studie von »einer Vielzahl von totalisierenden Reduktionen«. Die Neunte musste zur Feier Beethovens als Rheinländer herhalten oder zur Apotheose des bürgerlichen Genius beim Bonner Beethovenfest, sie wurde andererseits 1905 in einem Berliner Brauereisaal vor 3.000 Arbeitern zum Gedenken der Opfer der Revolution von 1848 und seit 1909 regelmäßig in den Wiener Arbeiter-Symphoniekonzerten gegeben. Kurt Eisner, Anführer der Münchner Novemberrevolution 1918 und Präsident der Räterepublik, wertete die Neunte als Sinnbild eines sozialistischen Utopieentwurfs, und Eisler mutmaßte 1927, dass nach dem »Sieg über die herrschende Klasse den Millionenmassen der bis dahin Unterdrückten mit dem Triumphgesang Beet-hovens zugejauchzt« werde: »Seid umschlungen, Millionen!« Die Arbeiterbewegung war es, die in den zwanziger Jahren die Silvesteraufführungen der Neunten begründete. Die Melodie der Ode wurde zur Hymne der englischen Sozialisten, diente aber auch den Nazis: Der Chefideologe Alfred Rosenberg hatte den Künstler (»Der Deutsche Beethoven ragt über alle Völker des Abendlands heraus«) und speziell die Neunte vereinnahmt: »Laufet, Brüder, eure Bahn / Freudig, wie ein Held zum Siegen!« Am Eröffnungstag der Olympischen Spiele von 1936 intonierten fast 6.000 Teenager die Ode, und Flak-Scheinwerfer wuchteten einen Lichtdom gen Himmel. 1937 führten die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler die Neunte auf Geheiß von Goebbels erstmals zu Hitlers Geburtstag auf. Mit der Saison 1941/42 wurde sie zum meistgespielten Repertoire-Stück im Großdeutschen Reich.

Die Ode blieb nach 1945 ein ideologisches Symbol: 1967 erklärte die Nato sie zur offiziellen Gesamthymne, 1972 avancierte sie auf Beschluss des Europarats zur »Europahymne« (was der Pianist Igor Levit, der das Stück 2018 beim Grünen-Parteitag spielte, einen »schönen Brauch« nennt). Der Auftrag zur »musikalischen Gestaltung« ging an Herbert von Karajan, der die im Original gesungenen Takte in einen reinen Orchestersatz verwandelte und sich so auch das Urheberrecht an der »Europahymne« und damit die beträchtlichen Profite aus ihrer Verwertung sicherte. Als sich die mächtigsten Regierungschefs der Erde 2017 zum G20 in Hamburg versammelten, präsentierte die Elbphilharmonie auf Wunsch der Kanzlerin die Neunte. Ebenso der neue Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko, beim Antrittskonzert, das 2019 vorm Brandenburger Tor stattfand – und zwar zur Feier der 30 Jahre währenden Zusammenarbeit des Renommierorchesters mit seinem Großsponsor, der Deutschen Bank, deren Geschichte mit dem Nationalsozialismus ebenso eng verknüpft ist wie die des »Staatsorchesters«.

»Schließlich machte man aus diesem so mächtigen und klaren Werk einen Popanz zur öffentlichen Verehrung«, stellte Claude Debussy schon 1901 fest. Daran ändern auch all die ehrenhaften Versuche von Dirigenten wie Gielen oder Vladimir Jurowski wenig, die Neunte nicht als bloßes Jubelstück aufzuführen, indem sie ihr Arnold Schönbergs »Überlebenden von Warschau«, Helmut Lachenmanns »Staub« oder Bernd Alois Zimmermanns »Ekklesiastische Aktion« voranstellen. Vladimir Jurowski, Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin, der beim Silvesterkonzert 2017 Schönbergs Werk sogar zwischen dem dritten und dem Finalsatz der Neunten eingefügt hat, berichtete mir von »empörten Briefen älterer Zuschauer«, die daraufhin ihre Abonnements gekündigt haben.

Man sollte die Neunte einige Jahre nur noch ohne den Schlusssatz geben und sich dem »hochgemuten finalen Verbrüderungsappell« (Gielen) verweigern. Man muss ja nicht gleich so weit gehen, wie es der Komponist Mauricio Kagel 1970 vorgeschlagen hat, nämlich Beethoven eine Zeitlang überhaupt nicht mehr aufzuführen, »damit die Gehörnerven, die auf seine Musik reagieren, sich erholen können«. Es wäre uns allen und Beethovens Musik schon gedient, wenn 2020 statt jeder zweiten Beethoven-Aufführung und -Radiosendung Mozart, Schubert, Schönberg, Eisler, Zimmermann et alii erklingen würden. Lasst uns Morton Feldman hören, um Beethoven zu ehren!  

 

Harry Goldschmidt: Beethoven. Werkeinführung. Reclam, Leipzig 1975, 352 Seiten, vergriffen

Ders.: Um die Unsterbliche Geliebte. Ein Beethoven-Buch. Rogner & Bernhard, München 1977, 549 Seiten, vergriffen

Andreas Eichhorn: Beethovens Neunte Sinfonie. Die Geschichte ihrer Aufführung und Rezeption. Bärenreiter, Kassel 1993, 364 Seiten, vergriffen

Adorno, Kagel, Metzger, Pauli, Schnebel, Wildberger: Beethoven ’70. S. Fischer, Frankfurt a. M. 1970, 69 Seiten, vergriffen

Sophia Mott: Mein Engel, mein alles, mein Ich. Beethoven und die Frauen. Edition Ebersbach, Berlin 2020, 144 Seiten, 18 Euro

 

Berthold Seligers Buch Klassikkampf ist bei Matthes & Seitz erschienen