„Manchmal ging es einfach um ein paar Tage Unterschlupf“

Ursprünglich wollte der in den frühen 1920er Jahren gegründete „Bund – Gemeinschaft für sozialistisches Leben“ Körper, Geist und Seele in Einklang bringen und gleichzeitig eine sozialistische Gesellschaft aufbauen. Nach dem Aufstieg der Nationalsozialisten arbeitete die kleine Gruppe gegen das Regime und half verfolgten Juden. konkret sprach mit dem britischen Historiker Mark Roseman, der die bislang weitgehend unbekannte Geschichte des „Bunds“ erforscht hat.

konkret: Im Gegensatz zu den meisten ähnlichen linken, lebensreformerischen Gruppen der Weimarer Republik hat der „Bund“ nach 1938 verfolgten Juden geholfen.

Mark Roseman: Seine ersten Hilfsaktionen für verfolgte Juden lassen sich für die Zeit nach der Reichspogromnacht belegen. Dabei handelte es sich um Versuche, die nötigen Mittel für die Wiedereinrichtung von Gebäuden bereitzustellen, aber vor allem auch um Solidaritätsbekundungen. Ein Mitglied der Gruppe hatte zum Beispiel Verbindung zu einer jüdischen Frau aufgenommen, die nach Polen deportiert wurde. Mit Hilfe von 20 weiteren Bundmitgliedern wurden Briefe und Päckchen noch Polen verschickt, die die Frau dann unter den Deportierten verteilen konnte. Und auch als Ende 1941 die großen Deportationen begannen, hat der „Bund“ sich an die Seite der Betroffenen gestellt, ihnen bei den Vorbereitungen auf die bevorstehende Deportation geholfen und Päckchen verschickt.

Ab 1942 hat der „Bund“ begonnen, Juden eine Unterkunft zu verschaffen, und 1944 galt die Hilfe dann vor allem Juden in „Mischehen“. Es waren an die acht Menschen, die der „Bund“ bis Ende des Krieges versteckt hat und die alle den Holocaust überlebt haben. Außerdem hat der „Bund“ Zwangsarbeiterinnen aus Osteuropa unterstützt. Ein „Bund“-Mitglied hat beispielsweise in Göttingen über eine befreundete Zwangsarbeiterin Nahrungsmittel und andere Güter in ein Zwangsarbeiterlager hineingeschmuggelt. Ähnliche Hilfsaktionen gab es im Ruhrgebiet. Nach dem Krieg wurden „Bund“-Mitglieder von den Familien derer, denen sie geholfen hatten, nach Belgien und Jugoslawien eingeladen.

Was unterschied den „Bund“ von anderen linken Gruppen in Deutschland zu der Zeit?

Im „Bund“ hat man von Anfang an darüber nachgedacht, wie man in dieser Zeit als Gruppe weiterbestehen könnte. Die Gruppe war ziemlich streng organisiert und stellte viele Forderungen an ihre Mitglieder. Es wurden klare Richtlinien entwickelt, wen man wann treffen konnte oder wie man sich in einem Polizeiverhör zu verhalten hatte. Das heißt, dass diese Gruppe klare Konturen und mehr Selbstbewusstsein hatte als viele andere. Außerdem hatte der „Bund“ vermutlich das Glück, durch sein Interesse an Rhythmik und Gymnastik relativ harmlos zu erscheinen, auch weil Anhänger der Körpererziehung generell eher der NS-Bewegung nahestanden.

Außerdem war der „Bund“ kein Verein und keine politische Partei mit Mitgliederlisten, sondern eine Gruppe, die aus Volkshochschulkursen hervorgegangen ist.

Trotzdem war die Gruppe als solche illegal und insofern im Visier der NS-Behörden. Nach 1931 hatte sie beschlossen, sich in „Internationaler Sozialistischer Orden Bund“ umzubenennen und in die Öffentlichkeit zu treten, um als Verbindungsorganisation zu wirken und die großen Arbeiterparteien zusammenzubringen. Ein recht ehrgeiziges Ziel für eine so kleine Gruppe. Sie war daher nicht unbekannt oder unbemerkbar, aber sie war eben auch keine Partei, und sie hat 1933 sehr schnell die Entscheidung getroffen, alle gefährlichen Unterlagen zu vernichten. Die Mitglieder nannten das „Hausputz“. Das war gut so, denn es gab zahlreiche Hausdurchsuchungen und Postkontrollen.

Welche Kompromisse sind Mitglieder des „Bundes“ in Nazi-Deutschland eingegangen?

Natürlich musste die Gruppe Kompromisse eingehen, um in Nazi-Deutschland weiterbestehen zu können. Mehrere Mitglieder waren bei der Wehrmacht. Manche haben es geschafft, eine Stelle als Sanitäter oder ähnliches zu bekommen. Ein Mitglied beschrieb, wie er einmal einen Transport aus Frankreich bewachen sollte, in dem sich verschiedene Gruppen von Gefangenen befanden, darunter auch Juden. Er war sich sicher, dass diese nach Auschwitz deportiert werden sollten. Angesichts dieser Verstrickungen haben Angehörige des „Bundes“ ihre Hilfsleistungen auch als Versuch gesehen, die eigene Schuld abzutragen. Das fand ich sehr beeindruckend.

Warum sind die politischen Bemühungen der Gründungsgeneration des „Bundes“ nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik gescheitert?

Diejenigen, die den Kern der Gruppe bildeten, waren zwischen 1900 und 1910 geboren. Sie hatten nicht bemerkt, wie altmodisch ihr Lebensstil und ihre Annahmen über Autorität geworden waren. Deshalb gelang es ihnen nicht, jüngere Mitglieder zu werben.

Es gab außerdem einige scharfe Auseinandersetzungen in den späten 1940er Jahren, die zeigen, dass auch Mitglieder der Gruppe selbst sich nicht mehr unterordnen wollten wie noch vor dem Krieg. Das betraf etwa diejenigen, die in der Wehrmacht gewesen waren.

Der „Bund“ leistete aber auch nach dem Ende des Krieges wichtige Bildungsarbeit an Schulen, Volkshochschulen und in Gruppen wie den Falken. Manche Mitglieder haben auch eine politische Rolle in ihrer Region gespielt, als Bürgermeister oder Abgeordnete. Doch aus ihrem Traum, mit den Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus eine führende Gruppe in der Nachkriegszeit zu werden, ist nichts geworden. Auch weil die Geschichte des „Bundes“ nicht in das öffentliche Erinnern der Bundesrepublik hineinpasste. Nicht in den 1950er Jahren, als man nicht wissen wollte, dass es Möglichkeiten gegeben hatte, nicht mitzumachen und Verfolgten zu helfen, und auch nicht in den 1960er und 1970er Jahren, in denen Widerstand vor allem mit Umsturzversuchen assoziiert wurde. Erst in den 1990er Jahren, als man begann, ein differenzierteres Bild von Widerstand zu zeichnen, wurden die Leistungen des „Bundes“ wahrgenommen.

Gibt es etwas an der Geschichte des „Bundes“, was Sie erstaunt?

Diese Gruppe hat kleine Dinge ernst genommen und getan, was man tun konnte, nachdem es ein ziemlicher Schlag für sie gewesen sein muss, dass nach 1933 nicht nur ein gewalttätiges und autoritäres Regime an die Macht gekommen war, sondern immer mehr Nachbarn, Bekannte, Institutionen und Gruppen begannen, dieses neue Regime zu akzeptieren.

Sie haben sich 2004 für die Anerkennung der Hilfs- und Rettungstaten des „Bundes“ durch Yad Vashem eingesetzt.

Es hatte bereits vorher zwei erfolglose Anläufe von Mitgliedern der Gruppe gegeben: von Lisa Jacobs und Marianne Strauß, zwei jüdischen Frauen, deren Leben durch die Gruppe gerettet worden war. Ich konnte ihren Bemühungen insofern Nachdruck verleihen, als ich belegen konnte, was die Gruppe eigentlich gemacht hatte. Irgendwann hat Yad Vashem dann einzelne Mitglieder der Gruppe als „Gerechte unter den Völkern“ anerkannt. Das Problem ist nur, dass diese Würdigung einzelner Mitglieder im Widerspruch dazu steht, dass der „Bund“ alle seine Aktionen als Gruppenleistung betrachtet hat.

Ihr Buch ist nicht nur eine Studie über eine politische Gruppe, sondern zugleich auch eine Reflexion über historisches Urteilen.

Bis vor etwa zehn Jahren sind die meisten Studien zum Thema Rettung nicht von Historikern, sondern von Psychologen gemacht worden, die sich mit Leuten befassten, die von Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ anerkannt worden waren. Ihre Vorstellung von Rettung ist retrospektiv: Schließlich kann man erst rückblickend sagen, ob ein Mensch gerettet wurde. Gruppen wie der „Bund“ haben geholfen, jedoch nicht immer mit dem Gedanken, dass diese Hilfe jemanden retten würde oder dass man bis zum Ende des Krieges engagiert bleiben könnte. Manchmal ging es einfach um ein paar Tage Unterschlupf, bis die Unsicherheit zu groß wurde. Und man vergisst oft, wie viel die Verfolgten selber zum Überleben beitragen mussten. Wie viel Mut, Überwindungskraft und Bereitschaft zur Anpassung man an den Tag legen musste, um in Nazideutschland am Leben zu bleiben. Die verfolgten Jüdinnen und Juden mussten aktiv Hilfe suchen und sich vor allem selbst helfen.

Interview: Jens Hoffmann

Mark Roseman: „Du bist nicht ganz verlassen“. Eine Geschichte von Rettung und Widerstand im Nationalsozialismus. DVA, München 2020, 448 Seiten, 25 Euro