Zum Tod von Ruth Klüger

»Finden wir ’nen Mann, nehmen wir den«  

Am 6. Oktober ist die Schriftstellerin und Holocaust-Überlebende Ruth Klüger gestorben. Im Interview in literatur-konkret 38 erklärte sie, warum alle Religionen frauenfeindlich sind, warum es lohnt, sich über sexistische wie antisemitische Diskriminierungen aufzuregen, und warum sie einem Mann ein Glas Wein über den Kopf gegossen hat  

 

Literatur Konkret: Bei Ihrer Universitätslaufbahn in den USA wurden Ihnen in den fünfziger Jahren immer wieder Steine in den Weg gelegt. Meinen Sie, die Aufstiegschancen von Frauen im akademischen Betrieb haben sich sehr verbessert?  

Ruth Klüger: Frauen haben es im Vergleich zu damals viel leichter an der Uni und in allen Berufen. Der sogenannte Postfeminismus übersieht das einfach – die verstehen nicht, wie weit wir schon gekommen sind und wie man bei der Stange bleiben muß, sonst wird man wieder zurückgesetzt. Es hat ja zwei Wellen von Feminismus gegeben – die eine noch vor dem Ersten Weltkrieg und im späten 19. Jahrhundert. Was diese Frauen wollten, war zunächst das Wahlrecht. Das war der Brennpunkt der Feministinnen, besonders der anglophonen. Als sie es dann bekamen, haben sie gedacht, jetzt haben sie alles, was sie brauchen, und sich wieder zerstreut, wodurch das Tor natürlich offen war für alle mögliche Arten von Diskriminierung.  

Frauen mußten bis in die Fünfziger sehr stark dafür kämpfen zu promovieren, sich zu habilitieren. Müssen Frauen heute an der Uni noch immer doppelt so gut sein wie ein Mann, um ernst genommen zu werden?  

Ja, absolut! Obwohl sich auch in Deutschland etwas getan hat, ist man in den USA da schon weiter. Womit ich nicht sagen will, daß die amerikanischen Feministinnen den deutschen in jeder Beziehung voraus sind. Das hängt davon ab, was man sich anschaut. Sieht man sich die Universitäten an, dann sieht es besser aus in Amerika, wenn man sich die Zahnarztpraxen anschaut, dann gibt es hier mehr Zahnärztinnen. Und es gibt sicher auch mehr Frauen im hiesigen Parlament als im US-Kongreß. In anderer Beziehung laufen die Entwicklungen in allen diesen Ländern parallel zueinander. Nur wenn man genauer hinschaut, sind Unterschiede wahrzunehmen. Österreich ist wahrscheinlich am rückständigsten von allen. Andererseits sind die österreichischen Sozialistinnen, die gleichzeitig Feministinnen sind, ungeheuer aktiv – vor allem sind sie witzig und aufgeschlossen. Und in Österreich gibt es eine literarische Brillanz, die ich sehr gern habe.  

Sie meinen feministische Autorinnen?  

Ja, klar, da ist zum Beispiel die Jelinek – weiter kann man gar nicht gehen mit dem Willen, sich radikal auszudrücken. Das wäre ein Beispiel von feministischem Radikalismus in Österreich, obwohl sie nicht nur Feministin ist.  

In Österreich ist der Katholizismus noch stärker verankert. Hängt der Grad der Gleichstellung unmittelbar mit der Religion zusammen?  

Ich werde immer mehr zur radikalen Atheistin, so daß ich glaube, alle etablierten Religionen sind frauenfeindlich und werden sich nicht ändern. In Israel haben wir die Ultraorthodoxen, die für das Land nicht gut sind, und für die Frauen sind sie besonders schlecht. Frauen sind in der jüdischen Religion gewiß weniger wert als Männer. Und das trifft auch auf die Katholiken zu, die katholische Kirche ist ja ein Männerbund. Und am wenigsten auf die Protestanten, aber auch. Und über den Islam brauchen wir gar nicht zu reden.  

Wie stehen Sie zu Femen oder Pussy Riot? Das sind ja recht plakative politische Protestformen.  

Ich finde die wunderbar. Wir haben nie einen solchen Mut gehabt. Wir sind eigentlich nie weiter gegangen, als BHs zu verbrennen, und selbst da ist fraglich, ob das jemand gewagt hat. Ich habe mich nie getraut, mich körperlich so bloßzustellen um der Sache willen. Die geben wirklich alles her. Ich glaube nicht, daß sie sich auf ihre Nacktheit reduzieren. Sie verwenden ihren Körper zur Aussage und als Waffe. Ich bewundere eine Generation, die das macht – und sie sind eben nicht postfeministisch. Sie sind radikale Feministinnen in unserem alten Sinn.  

Die Stellung der Frau, das Recht auf Bildung und das Recht, sich literarisch zu entfalten, ist Ihnen zufolge im 18. Jahrhundert stärker anerkannt als im 20. Worin sehen Sie die Ursache dafür? Welche Frauen der damaligen Literatur würden Sie als besonders emanzipiert bezeichnen?  

Es gab viel mehr von ihnen in England und Frankreich als in Deutschland, aber es gab sie. Schon im 17. Jahrhundert und auch zuvor. Hildegard von Bingen, wenn man von vorne anfangen will. In den Klöstern hatte sich da etwas entwickelt, was im Protestantismus etwas untergegangen ist, nämlich das Recht der Frauen, ein geistiges Leben zu führen. Das ist ganz merkwürdig. Denn im großen und ganzen unterdrückt die katholische Kirche ja Frauen, indem sie sie nicht zu Wort kommen und predigen läßt. Und vor allem durch ihre Familienpolitik. Ich sehe ein, daß man gegen Abtreibung argumentieren kann – obwohl ich anders argumentiere – , ich verstehe nur nicht, wie man gegen Schwangerschaftsverhütung sein kann. Trotzdem hat eben die katholische Kirche von Anfang an den Frauen das Recht gegeben, ein geistiges Leben zu führen und sich in Klöstern zusammenzutun, zu lesen und zu schreiben, und das wirkt manchmal wie fortgeschrittene Seminare. Es gab Mystikerinnen im 17. Jahrhundert, die Greiffenberg hat wunderschöne Gedichte geschrieben. Und dann im 18. und 19. Jahrhundert die Frauen der Romantik wie Bettina von Arnim.  

Haben Sie in Ihrem Leben Männer kennengelernt, die sie als Feministen bezeichnen würden?  

Ich will hoffen, meine Söhne. Eine Anglistin in Amerika hat mal gesagt: »Unsere Zukunft liegt in den Händen unserer feministischen Söhne.« Und insofern, als irgendwo irgendeine etwas erreicht hat, gab es ja immer irgend jemand, der ihr eine Tür oder den Spalt einer Tür geöffnet hat. Das waren sehr oft Männer, denn die hatten das Sagen.  

Was ist für Sie Feminismus, und braucht es eine feministische Bewegung heute noch?  

Wir sind in Gefahr, daß das Erreichte durch diesen sogenannten Postfeminismus zurückgeht, und solange keine Gleichberechtigung da ist, haben wir das Ziel nicht erreicht. Es ist ein ganz platter Feminismus, den ich hier verfolge, der Sie vielleicht zum Gähnen bringt. Aber es geht um die wichtigen Dinge, zum Beispiel darum, daß Frauen für die gleiche Arbeit das gleiche Geld bekommen. Wir sind jetzt so ungefähr bei 80 Cents zu einem Euro, und es ist ungefähr dasselbe Verhältnis beim Dollar. Eines der großen weltweiten Probleme ist die Sklaverei, und es sind vor allem Frauen und Mädchen, die da ausgenutzt werden für sexuelle Zwecke und billige Arbeit. Das geht auf eine Mißachtung der Frauen zurück, die man auch in westlichen Ländern finden kann, darum lohnt es sich, sich ganz unoriginell aufzuregen, wenn Frauen höhnisch angegriffen und herabgesetzt werden. Es ist die Quelle der Versklavung der Frauen.  

Wurden Sie stärker als Frau diskriminiert oder als Jüdin stigmatisiert? Kann man da unterscheiden?  

Die halbe Zeit weiß man es gar nicht – da kann man nur raten. Ich glaube, die Diskriminierung als Frau war stärker zu meiner Zeit. Aber das andere war da. Besonders unter deutschen, aber auch unter österreichischen Kollegen war das ganz bestimmt da. Man weiß ja, daß es ziemlich rückständige Leute an den Universitäten gibt.  

Sie haben einmal einem Mann bei einem Empfang ein Glas Wein über den Kopf gegossen. »Eine wirksame Methode«, schreiben Sie.  

Das sollte man nicht mehr als einmal machen. Dann kriegt man einen schlechten Ruf, und der Effekt ist weg. Es war kompliziert. Der hat mich so beleidigt, weil er selber Jude war und mir antisemitische Bemerkungen unterstellt hat. Ich hab ihn darauf angesprochen. Und er hat zugegeben, was er über mich erzählt hat, und da habe ich gezittert vor Wut und alles, was ich konnte, war, ihm das Glas Wein, das ich in der Hand hatte, ins Gesicht zu schütten. Mich hat das entladen. So wie ich den Kerl kenne, prahlt er wahrscheinlich damit. Aber da war beides dabei. Da war auch so eine Art jüdischer Selbsthaß dabei, oder er wollte der einzige Jude im Department sein. Genau habe ich es nicht verstanden. Vor vielleicht 15 Jahren kamen Arthur Schnitzlers Tagebücher heraus, und ich sollte in Wien eine Ansprache halten. Vorher wurde ich einem Gremium vorgestellt, und da hat mir irgend so ein alter Herr ein Kompliment gemacht, für das, was ich angehabt habe – das war so ein Overall. Ich war erstaunt, und er sagte doch tatsächlich: »Na, Sie hätten ja auch eine häßliche alte Jüdin sein können.« Das ist Wien.  

Wie kommt es, daß sich bei Judith Butler und noch deutlicher bei Jessica Walker Feminismus und Antisemitismus paaren?  

Die haben einfach unrecht in bezug auf Israel. An der Gendertheorie finde ich die Idee interessant, daß wir nicht so festgenagelt sind in unserer Weiblichkeit und unserer Männlichkeit.  

Auf terminologischer Ebene wird gerade in linken Kreisen stark darauf geachtet, daß man die weibliche Form wahrt bzw. mitbenennt. Im Englischen gibt es das weniger. Finden Sie diese Unterscheidung »Leser – LeserIn« wichtig, oder ist das eher pedantisch?  

Zweierlei. Mir scheint es nicht so wichtig, wie man es macht, ob man jetzt immer LeserInnen schreibt – ich mag das nicht. Ich benutze oft den Plural, »die Leser« oder »der Leser und die Leserin«. Was mir wichtig erscheint, ist, daß man irgendwo andeutet, daß man weiß, da existiert auch ein weibliches Geschlecht, aber wie man es macht, bleibt jedem überlassen. Bei den Amerikanern ist es umgekehrt. Die wollen die weibliche Endung nicht. Aber überhaupt nicht. Du kannst dich nicht als Dichterin darstellen. Du bist »the writer«. So ein Wort wie »poetress« – das ist total verpönt. Das bedeutet eigentlich eine schlechte weibliche Dichterin. Die Schauspielerinnen lassen sich nicht mehr »actress« nennen, sondern »actor«. Also eigentlich alles, was auf »ess« endet, ist nicht gut, ist antifeministisch. Der Unterschied ist hier, daß man im Englischen darauf besteht, das generische Wort zu verwenden, und in Deutschland darauf, die weibliche Form dranzuhängen. Aber in beiden Fällen geht’s darum herauszustreichen, daß es ein weibliches Geschlecht gibt. Wenn man in älteren Büchern liest, daß alle Menschen nur als »er« vorkommen, so hat man schon das Gefühl, es ist eine gute Sache. Man muß sich dessen bewußt sein, daß die Männer nur das halbe menschliche Geschlecht sind. Darum geht’s.  

Braucht es Quoten? Wird es ohne solche Vorgaben zu einer annähernd gleichberechtigten Verteilung von Berufen/Chancen kommen?  

Das ist schwierig. Die Grünen haben ja Erfolg mit der Quote gehabt. Aber bei uns, in den USA, gibt’s an sich keine festen Quoten. »Affirmative action« bedeutet, daß man Frauen für alles in Betracht zieht, aber nicht unbedingt, daß man sie anstellt. Dieser Unterschied, der vielen in Deutschland nicht so wichtig erscheint, ist für uns sehr wichtig. So versucht man zu vermeiden, daß Frauen oder Schwarze mit dem Vorwurf konfrontiert sind, nur beschäftigt zu werden, weil sie Frauen oder Schwarze sind.  

Aber auch da ist man in den USA weiter, wenn man sich die Bewerbungsmodi ansieht – mit anonymisierten Lebensläufen ohne Foto.  

Ja, da haben die Minoritäten und die Frauen einen riesigen Aufruhr gemacht. Sie haben zum Beispiel darauf bestanden, daß man an die Empfehlungsschreiben der Professoren herankommt. Mittlerweile kann man sie einsehen, und wir haben sie dann auch veröffentlicht. Da standen Sachen drin wie »sie saß in meinem Seminar wie ein aufgescheuchtes Reh« – wer stellt eine Professorin ein, die wie ein aufgescheuchtes Reh dasitzt? Das hat dazu geführt, daß mehr auf die Formulierungen und Wertungen geachtet wurde, und dann begannen auch die Studentenevaluierungen. Ja, in mancher Hinsicht sind wir da Europa voraus. Das hat aber sicher auch damit zu tun, daß das Land viel multiethnischer ist, und die Bürgerrechtsbewegung hat da ganz viele Anstöße gegeben.  

Wann sind Sie am stärksten als Frau diskriminiert worden?  

Im Beruf war es zwar umständlich, und ich habe keine Vorstellungstermine bekommen, die die Männer bekommen haben, und wir sind immer schlechter bezahlt worden, aber ich hab’s ja geschafft. Es gab alle möglichen Diskriminierungen. Bei meinem ersten Vorstellungsgespräch hat man mir gesagt, »wenn wir ’nen Mann finden, dann nehmen wir den« – heutzutage sagt man das zumindest nicht mehr so. Es war wahrscheinlich am ärgsten in den Jahren nach dem Krieg und als Studentin, denn es war so aussichtslos. Es gab nur ein paar Berufe, die für Frauen überhaupt in Frage kamen, also Bibliothekarin, Sozialarbeiterin. Aber es gab eben Frauencolleges, und da hat man schon Professorinnen gehabt.  

Sie schildern in Ihren Memoiren Unterwegs verloren, daß auch die Situation der Schwangerschaft unheimlich erniedrigend war.  

Ja, da wundern sich die Leute immer. Viele junge Frauen haben mir schon gesagt, wie kann man nur eine Mode haben, bei der man die Schwangerschaft zu verhüllen sucht? Das war ganz selbstverständlich für uns. Das war dieser Rock mit einem großen Loch, und dann hat man so was Luftiges darüber getragen. Es war fast wie eine Krankheit. Alle Ärzte waren Männer, und die haben einen sehr von oben herab behandelt, und die Babys wurden einem direkt nach der Geburt weggenommen. Aber auch Frauen, die Lehrerinnen waren, haben nicht unterrichtet, wenn sie schwanger waren. Auch Schülerinnen sind aus der Schule geworfen worden. Heute versucht man, sie zu fördern.  

Wann ist ein sprachlicher Übergriff eines Politikers auf eine Journalistin noch schlechter Geschmack, und wann wird eine Grenze überschritten?  

Das war Politik. Da stürzt man sich auf so was. Ich habe von der Affäre um Rainer Brüderle gehört und hab gekichert. Wir hatten zu dem Zeitpunkt etwas Ähnliches in Amerika. Als Obama eine Richterin beim Obersten Gerichtshof ernannt hat, hat er sie vorgestellt und gesagt, wie gut sie aussieht, und da gab es dann Aufruhr. Jeder, der so etwas macht, setzt sich der Kritik aus. Man sollte das unterlassen. Aber wichtig ist das nicht.  

Ruth Klügers Erinnerungen Weiter leben und Unterwegs verloren sowie der Band Was Frauen schreiben sind bei DTV erhältlich. 2013 sind die kommentierten Gedichte Zerreißproben bei Zsolnay (120 Seiten, 14,90 Euro) erschienen. Die Dokumentation »Das Weiterleben der Ruth Klüger« kam 2012 in der Edition Filmladen auf DVD heraus.  

Interview: Anina Valle Thiele