Totschlag

Der Umgang mit Geflüchteten an den EU-Außengrenzen zeigt: Die Barbarei muss nicht erst noch verhindert werden, wir stecken längst mittendrin. Ein Beitrag von Thorsten Mense aus konkret 5/20

Die Bilder, die uns Anfang März von der griechisch-türkischen Grenze erreichten, kamen nicht überraschend. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die nächste große Fluchtbewegung die hochgerüsteten Außengrenzen der Europäischen Union erreichen würde. Der Flüchtlingsdeal mit der Türkei hatte die Eskalation nur vertagt, und hätte Erdoğan den Deal nicht einseitig aufgekündigt, wäre es an anderer Stelle zur Konfrontation gekommen. Flucht und Migration gehören zum Kapitalismus wie der Warentausch. Keine policy wird Menschen darin hindern, sich auf den Weg zu machen, wenn sie es müssen. Die Frage ist nur, wie hoch der Preis ist, den wir sie dafür zahlen lassen.

In den vergangenen Jahren hat die staatliche Repression gegen Geflüchtete eine neue Dimension erreicht: Tausende Kilometer Nato- Stacheldraht wurden verlegt, Zäune errichtet, Mauern hochgezogen. Anfang März hat die offizielle Zahl der infolge der europäischen Abschottung im Mittelmeer Ertrunkenen die 20.000-Marke überschritten. Ein Massengrab vor den Stränden, an denen wir Urlaub machen. In libyschen Folterlagern werden weiterhin Zehntausende Menschen festgehalten. Die Milizen, die sie entführen, vergewaltigen und als Sklaven verkaufen, werden von unseren Steuergeldern finanziert, europäische Staaten leisten ihnen mit Daten der Luftüberwachung Amtshilfe bei ihrem dreckigen Geschäft. In den improvisierten Camps auf der Balkanroute erfrieren sie, in den Lagern auf den griechischen Inseln ersticken sie im Müll.

Das Grundrecht auf Asyl ist angesichts der realen Chancen, dieses Recht in Anspruch nehmen zu können, zur Farce verkommen. Die Frage war daher nicht, ob, sondern nur wann Europa auch unter Einsatz von Schusswaffen Menschen auf der Flucht dieses Recht verwehrt. In Zusammenarbeit mit nationalistischen Bauern und rechtsextremen Milizen haben die griechischen Sicherheitskräfte die Faschisierung der europäischen Flüchtlingsabwehr vollendet. Und ernteten dafür Lob von der deutschen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Wenn demnächst das Corona-Virus die Camps erreicht, werden wir im livestream zuschauen können, wie die Menschen verrecken.

Die Barbarei ist kein zu verhindernder Zustand, wir stecken längst mittendrin. Dies ist keine neue Erkenntnis, doch haben wir das Bewusstsein darüber ebenso ausgesperrt wie die Geflüchteten. So kann die Friedensnobelpreisträgerin EU weiter von Demokratie und Menschenrechten reden, während sie Kinder ertrinken und erfrieren lässt, Menschen, die nach Hilfe schreien, mit Tränengas auseinander- und in den Tod treibt. Die Gewalt, auf der unsere Ordnung aufbaut, wird uns gerade schonungslos vor Augen geführt.

Das wollen auch viele Linke nicht hören, sie haben sich auf die Logik des kleineren Übels eingelassen, und damit auf die Logik der bürgerlichen Herrschaft. Sie reden sich ein, hierzulande würden Rechtsstaat und Demokratie herrschen, und ignorieren, dass das nur für uns gilt, die Folterlager bloß exterritorialisiert wurden. All die Gewalt an den Grenzen, die Abschiebungen und Asylrechtsverschärfungen, die Lagerzentren und push backs sind das Werk von Demokratinnen und Demokraten an der Macht. Natürlich wäre alles noch viel schlimmer, würden sich die neuen Faschisten und ihre noch autoritäreren Krisenlösungen durchsetzen. Aber der Normalzustand, den wir gegen noch beschissenere Verhältnisse verteidigen, ist längst die Katastrophe.

In Krisensituationen zeigen die bürgerlichen Demokratien ihre hässliche Fratze, die stets unter der Oberfläche ihrer Menschenrechtsdiskurse und Humanitätsbeschwörungen schlummert. Damit jedoch die Barbarei im rechtsstaatlichen Rahmen verbleibt, werden, wie in Griechenland mit der temporären Aufhebung des Asylrechts, die Grundrechte mal eben außer Kraft gesetzt. Willkür will man sich schließlich nicht vorwerfen lassen, und außerdem ist selbst schuld, wer sich trotzdem auf den Weg macht. Das ist das »Signal an die Flüchtlinge«, von dem Friedrich Merz (CDU) sprach, der damit Björn Höckes Formulierung von der »wohltemperierten Grausamkeit« ins Mitte-taugliche Feuilleton übersetzte. Dieses bereitet uns schon seit Jahren darauf vor, die Gewalt als unvermeidbar hinzunehmen, ohne dass unser Selbstbild als aufrechte Humanistinnen und Humanisten an der Realität und ihrem Zynismus zerbricht.

Der deutsche Vorzeigephilosoph Peter Sloterdijk sprach bereits 2015 im Deutschlandfunk von der »wohltemperierten Grausamkeit«, die nötig sei, um sich gegen Flüchtlinge »in angemessener Weise zur Wehr zu setzen«. Zwei Jahre später schrieb Theo Sommer, ehemaliger Herausgeber der »Zeit«, dass sich Europa angesichts der »drohenden Elendsinvasion aus Afrika« zu »drastischen Abwehr- und Gegenmaßnahmen gezwungen« sehen könnte, sosehr dieser Gedanke auch erschrecke. Das ist der Trick der Demokratinnen und Demokraten: Anders als die Faschisten wollen sie die Armen und Flüchtenden ja nicht sterben lassen oder gar ermorden, es bleibe ihnen bloß nichts anderes übrig. Ihre Grausamkeit ist nicht gewollt und tut ihnen selbst letztendlich mehr weh als ihren Opfern.

Kenan Malik hat diesen menschenverachtenden Zynismus treffend im »Guardian« beschrieben: »Wenn wir fragen: ›Aber was können wir denn sonst tun?‹, fragen wir in Wahrheit: ›Aber was können wir denn sonst tun, außer Masseninhaftierung, Folter und Töten?‹« Hinter Euphemismen wie »Grenzkontrollen« und »Schutzschild« (von der Leyen über die Rolle Griechenlands in der Flüchtlingsabwehr) versteckt sich die Bereitschaft zum Totschlag.

Die technisierte Sprache verunmöglicht Empathie, in ihrer brutalen Rationalität hat Menschlichkeit keinen Platz. Sie erst macht es möglich, die selbst zu verantwortende Brutalität an den europäischen Außengrenzen anzuschauen und sich weiterhin als moralisches Wesen zu imaginieren. Diese Brutalität entspringt nicht blindem Hass oder rassistischem Affekt, sondern der Logik des Sachzwangs. So wird der Einzelne aus der Verantwortung genommen: »Wir können euch hier nicht aufnehmen« (Friedrich Merz).

Diese Unfähigkeit zur Empathie, die Rationalisierung menschlichen Leids und der eigenen Schuld, waren schon bei der Shoah die psychologische Vorbedingung für die Greueltaten »inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen«, wie Adorno schrieb. Ein einigermaßen gesitteter und harmloser Mensch ist sicher auch Theo Sommer, der 2017 in seinem Essay betonte: »Ich kann diese Art der Hintanstellung von Moral noch nicht einmal verdammen. Sie dient der Bewahrung der eigenen demokratischen Ordnung und des gesellschaftlichen Friedens in unseren Ländern.« Das ist die Dialektik der Aufklärung im 21. Jahrhundert.

Thorsten Mense schrieb in konkret 2/20 über den Failed State Sachsen