Mit Musik geht alles besser

konkret erzählt die Geschichte der Bundesrepublik anhand ihrer Hitparaden Karnevalslied von Jupp Schmitz (Musik) und Kurt Feltz (Text)

Es gehört zur deutschen Katastrophe, dass Karneval, Fasching, Fassenacht und wie sie alle heißen, 1945 frontverlaufsbedingt ins Wasser fielen. Ein Jahr nach Kriegsende wagten mutige Volksgenossinnen und Volksgenossen aber schon den Neuanfang. Inmitten von Trümmern und ungeklärten Schuldfragen, zwischen Nichtsgewusst und Nixgemacht, wurden erste Kostüme genäht, Büttenreden verfasst und Umzüge organisiert. Schließlich musste es ja weitergehen. Und so war es nur eine Frage der Zeit, bis die postfaschistische Volks-Community zu ihrem ersten Karnevalsschlager kam. Jupp Schmitz, der zuvor als Orchesterleiter und Komponist an der leichten Unterhaltungsfront gedient hatte, legte ihn am 21. Oktober 1949 vor – pünktlich zur deutschen Wiederinbetriebnahme unter dem unbedrohlichen Namen »Bundesrepublik«.

Sein beeindruckend uninspiriertes Trinklied »Wer soll das bezahlen?« war der Hit der fünften Jahreszeit 1949/50. Und dass er so schnell nicht wieder in Vergessenheit geriet, dafür sorgten dann Horden angeheiterter Deutscher sowie mindestens zwölf Neueinspielungen, von denen Gus Backus’ entschärfte Version von 1967 wohl die geläufigste sein dürfte. Sie ersetzte den ehehygienischen Striptease der zweiten Strophe (zur Vorführung der vermutlich bei Beate Uhses »Betu-Versand« bestellten »Wäsche und Strümpfe und Schuhe dabei«) durch die eher allgemein gehaltene Klage über den laufenden Haushaltsposten »Frauenschönheit« und konnte damit sogar im Radio laufen.

Und weil Karneval immer irgendwie Herrschaftskritik ist (was aber stets dazugesagt werden muss, weil es sonst keiner merkt), behandelt »Wer soll das bezahlen?« auch den D-Mark-Schock. Das neue Geld machte sich im postfaschistischen Alltag nämlich zunächst durch steigende Preise bemerkbar, was wiederum den urdeutschen Argwohn vor dem kalt-abstrakten Tauschwert auf den Plan rief, der dem viel sympathischeren Gebrauchswert ständig in die Quere kommt. Dieses Paradox veranschaulicht Schmitz volksnah als sonntägliches Zechgelage in der ersten und als neue Reizwäsche in der zweiten Strophe. Das musste reichen, damit jeder wusste, was gemeint ist.

Um allerletzte Unklarheiten zu beseitigen, wiederholte sich das Ganze dann noch einmal auf der Metaebene. Der Schlagerkomponist Wiga Gabriel (bekannt durch »In München steht ein Hofbräuhaus«) verklagte Schmitz, weil er in »Wer soll das bezahlen?« ein Plagiat seines Wehrmachtsgassenhauers »Sie hieß Marie, und treu war sie« (»Sie war der Liebling von der ganzen Kompanie«) von 1936 ausgemacht haben wollte. Kurt Feltz, der den Text geschrieben hatte, verteidigte sich mit der von anderen zeitgenössischen Prozessen her bekannten Unwissenheitsbeteuerung. Dass er Gabriels Lied nicht gekannt habe, wurde ihm aber als unglaubwürdig ausgelegt, nachdem er als Leiter der »Hauptabteilung Musikalische Unterhaltung« beim NWDR 1948 Gabriels Komposition »Mein blonder Hans, du hast schon graue Haare« abgelehnt hatte, die ihn zu sehr ans »Horst-Wessel-Lied« erinnerte. Das veranlasste Gabriel wiederum zu der schnippischen Bemerkung, dass ihn »Wer soll das bezahlen?« doch ebenfalls an die alten Zeiten hätte denken lassen müssen.

Da Jupp Schmitz schließlich glaubhaft darlegen konnte, dass beide Stücke auf die gleiche Volksweise zurückgingen, gewann er den Prozess, und Gabriel blieb – als angemessen platter Schlussgag einer postfaschistischen Schmierenkomödie – auf den Verfahrenskosten sitzen.

Leider ist nicht überliefert, ob sich die Retourkutsche bloß auf die faschistoid plumpe Liedform bezog, die die beiden Stücke gemeinsam haben und die Schmitz lediglich vom alles in Scherben hauenden Marschtakt in einen grölfreundlich vereinfachten Walzer überführt hatte. Denn genaugenommen bearbeitet »Wer soll das bezahlen? « die vielleicht schmerzvollste und traumatischste Erfahrung, die der deutschen Seele im 20. Jahrhundert zugemutet worden war und die sie noch viele Karnevalssaisons lang in einen eher bewussten und einen eher abgespaltenen Teil zerreißen sollte: dass nämlich auf jeden Exzess am Ende eine Zeche wartet, die irgendwer bezahlen muss. Und die fällt umso höher aus, je mehr sich die Beteiligten enthemmen. Das gilt im Festzelt wie im Generalgouvernement.

Den Deutschen war gerade erst die Rechnung dafür präsentiert worden, dass sie in einer zwölf Jahre währenden Party plündernd und mordend über ihre Nachbarinnen und Nachbarn sowie den Rest der Welt hergefallen waren – befeuert von einem polytoxischen Cocktail aus historischer Bestimmung, Panzerschokolade, Führerreden, Gemeinschaftserleben, völkischer Überlegenheit und individuellem Sadismus. Und diese Rechnung fiel unangenehm aus: Gebiets- und Gesichtsverlust, Demilitarisierung, Scham, welthistorischer Schuldspruch, persönliche Degradierung und individueller Karriereknick. Einige mussten die in mühevoller Kleinarbeit arisierte Beute wieder rausrücken; andere wurden von den Siegermächten gezwungen, Konzentrationslager zu besichtigen. Das war bitter! Aber nach dem Weitermarschieren ist eben immer vor dem Holocaust-Mahnmal! Die Deutschen hatten einen Mordskater und einen furchtbar dicken Schädel. Ihr Land glich einem Häufchen Elend, und alle schworen sich, nie wieder über die Stränge zu schlagen.

Allerdings musste nun auch die Frage erlaubt sein, wer das eigentlich alles bestellt hatte, was nun auf der Rechnung auftauchte. Hitler? Goebbels? Oder doch vielleicht jene Weltverschwörung, die die Deutschen gezwungen hatte, ihre Urheber/innen umzubringen?

Andererseits: Welche aufrechte Närrin und welcher echte Narralese hätte sich jemals vom Hinweis auf den nächsten Morgen davon abhalten lassen, fünfe gerade sein zu lassen? Dass das böse enden wird, steigert nur die Qualität des Rausches, weswegen »Wer soll das bezahlen?« auch eher selten am Tag danach gesungen wird, sondern dann, wenn’s grad am schönsten ist. Alle, die einstimmen, wissen sowieso, dass sie es wieder tun werden, egal, was sie sich nach dem bösen Erwachen und unter dem Eindruck der anstehenden Reue vornehmen mögen.

Dieses klammheimliche Einverständnis ist die Botschaft von Zechliedern: Wer sie singt, gibt sich das Versprechen, aus den Folgen des Saufens nichts gelernt haben zu müssen. Das war 1949 vermutlich Balsam auf die schwer angeschlagene Volksseele, die soeben aus dem schlimmsten Blutrausch der Geschichte erwacht war und dafür nun zur Kasse gebeten wurde, obwohl sie sich – dem kollektiven Filmriss sei Dank – nicht mehr an viel erinnern konnte.

Frank Apunkt Schneider