»Das Verbindende zur Sprache bringen, ohne dabei das Besondere zu übersehen«

Interview mit den „Outside the box“-Redakteurinnen Constanze Stutz und Kimey Pflücke über Identitätspolitik, die populären Feministinnen Laurie Penny und Margarete Stokowski, feministisches Geschichtsbewusstsein und das zehnjährige Bestehen ihrer Leipziger Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik

konkret: In den aktuellen Debatten um Identitätspolitik wird vor allem dem Queerfeminismus vorgeworfen, radikale Gesellschaftskritik zugunsten von Individualisierung und Fragen der Betroffenheit zu verwerfen. Wie haben diese Debatten eure Entscheidung für das Thema “Erfahrung” als Schwerpunkt der Jubiläumsausgabe beeinflusst?

Kimey Pflücke: Erst mal ging es uns darum zu klären, inwiefern Erfahrung eine Rolle in unserer kritisch-theoretischen Bewusstwerdung spielt. Und dann haben wir ältere Texte wie „History is a Weapon“ des Combahee River Collective (1977) und „„The Evidence of Experience“ von Joan Scott (1991) gelesen und festgestellt: Das ist total nah an den aktuellen Debatten. Nicht nur an den Diskussionen um Identitätspolitik, sondern auch an den feministischen Bewegungen, Protesten und Kritiken, die gegen verschärfte misogyne Politiken aufbegehren.

Erfahrung als Thema ist dabei für uns beides: Einerseits die Beschäftigung mit einer theoretischen Reflexion über Erfahrung, also nicht nur ein unbewusstes, ohnmächtiges In-Der-Welt-Stehen, sondern immer schon reflektiertes Erleben. Und andererseits bedeutet Erfahrung diese ganzen individuellen, persönlichen und subjektiven Momente. Das Besondere, das nicht im Allgemeinen aufgeht, auch zu seinem Recht kommen zu lassen.

Constanze Stutz: In der Auseinandersetzung mit der Zweiten Frauenbewegung ist uns aufgefallen, dass das alles eigentlich keine neuen Fragen sind, weil Feministinnen sie immer wieder in den letzten 50 Jahren in verschiedenen Kontexten gestellt haben. Zum Beispiel: Was macht die Erfahrung aus, in dieser Gesellschaft zur Frau geworden zu sein, und welche Differenzen, aber auch welche Gleichheit zeigt sich in den Erfahrungen? Der Bezug auf weibliche Erfahrung im Hinblick auf Gesellschaftskritik hat in der Geschichte immer wieder wechselnde Funktionen eingenommen. Vor allem galt es natürlich erst mal, die lebensweltlichen Erfahrungen, gerade aus der Reproduktionssphäre, auf die Frauen immer wieder verwiesen wurden, zu politisieren und schon damit das androzentrische Politikverständnis der Linken zu kritisieren.

Und wo liegt der Unterschied von diesem Erfahrungsbegriff und den Debatten um Betroffenheit?

Stutz: Der Begriff der Betroffenheit, wird im Gegensatz zu dem der Erfahrung, wie wir ihn verstehen, als etwas sehr Abgeschlossenes gedacht. Da geht es viel um gesellschaftliche Positionen, und wie sie den Zugang zu bestimmtem Wissen und das Sprechen über dieses Wissen bestimmen. Wir hingegen versuchen historisch und gegenwärtig, weibliche Erfahrung an der Bruchstelle zu feministischer Gesellschaftskritik zu betrachten und danach zu fragen, welche individuellen und kollektiven Formen von Erkenntnis es dafür braucht.

Was ist denn mit den vielen Differenzen zwischen Frauen und dem neuen feministischen Kollektivsubjekt FrauenLesbenTransInter? Ist es heute noch möglich von weiblicher Erfahrung zu sprechen, sie gar als Kern feministischen Handelns und Denkens aufzugreifen?

Pflücke: Diese Debatte treibt uns ziemlich um, und Redaktionsmitglied Koschka Linkerhand schreibt genau dazu in der neuen Ausgabe. Sie macht dort die Position stark, dass es um die geteilte Unterdrückungserfahrung geht. Das weibliche Erfahrung nicht glorifiziert werden sollte, wie das etwa in der Arbeiterbewegung passiert ist, die die proletarische Erfahrung auch als abgeschlossenes, positives Bild verdinglicht hat. Weibliche Erfahrung als Unterdrückungserfahrung kann so Solidarität aufrufen und muss kein weißes cis-geschlechtliches Privileg sein, wie das identitätspolitisch teilweise falsch kritisiert wird. Wenn Erfahrung vermittelt wird und gesellschaftstheoretisch rückgebunden ist, kann ich erkennen, was meine Unterdrückung mit deiner Unterdrückung zu tun hat — auch wenn wir unterschiedlich vergesellschaftet sind. Das Verbindende zur Sprache zu bringen, ohne dabei das Besondere zu übersehen und es als Unterdrückung zu skandalisieren, ist das eigentliche Anliegen feministischer Gesellschaftskritik.

Populäre Feministinnen wie Laurie Penny und Margarete Stokowski verbinden in den letzten Jahren sehr erfolgreich Erzählungen von weiblicher Erfahrung mit Gesellschaftskritik und landen damit nicht nur als Interviewpartnerinnen in konkret, sondern auch als Autorinnen auf „Spiegel“ oder „Zeit online“. Ein Grund zur Freude?

Stutz: Im Schreiben der beiden ist zunächst mal sehr viel Richtiges und Wichtiges. Gerade weil sie auch in bürgerlichen Medien intervenieren und für viele, vor allem für junge Frauen, am Anfang feministischer Suchbewegungen stehen. Gleichzeitig ist zu kritisieren, wie sie individuelle Erfahrung mit Gesellschaftskritik verbinden. Penny schreibt zum Beispiel in großen Worten über Kapitalismuskritik und die Vermarktung des weiblichen Körpers. Aber wenn man genauer hinschaut, findet man weder bei ihr noch bei Stokowski wirklich eine begriffliche Entfaltung kapitalistischer (Re-)Produktionsverhältnisse. Das Versprechen von radikaler Gesellschaftskritik kann so nicht eingelöst werden.

Am gravierendsten finde ich, dass beide für all die Erfahrungen, Erniedrigungen und Verletzungen, die sie beschreiben, letzten Endes nur individuelle Auflösungen anbieten. Bei Stokowski ist das dann eine bessere „Fuck-you“-Attitüde, die sie für sich und andere Frauen einfordert. Während Penny empfiehlt, sich der „Erzählung“ vom patriarchalen Kapitalismus zu verweigern und statt dessen andere Erzählungen von Frauen und Queers zu produzieren. Diese komplett individuelle Auflösung struktureller Problemen überbetont die Autonomie. Die Fragen, wie ich als Frau mit anderen in Beziehung und Abhängigkeiten lebe und wie ich selbst Teil meiner eigenen Unterdrückung bin, mit der ich mich auch identifiziere, bleiben unterbelichtet. Damit vertreten beide eine Form feministischer Selbstermächtigung, die sich mit den sowieso schon vorhandenen Appellen an Frauen deckt, sich neoliberal frei zu machen von Hindernissen, die eine aufhalten auf dem Weg zur coolen, toughen Frau auf dem Arbeitsmarkt. Popfeminismus wird so zu einem trotzigen Lebensstil, der feministisches Begehren anderer Verhältnisse befriedet.

Warum fandet ihr es wichtig, auch berühmte Akteurinnen der Zweiten Frauenbewegung wie Frigga Haug und Helke Sander für die Ausgabe zu interviewen?

Pflücke: Was wir von Frigga Haug und einem sozialistischen, kommunistischen oder materialistischen Feminismus gelernt haben, lässt sich gar nicht unterschätzen. Durch sie haben wir etwa den Begriff von Geschlechterverhältnissen als Produktionsverhältnissen sehr viel diskutiert. Außerdem weiß Frigga Haug um den Wiederholungszwang, dem der Feminismus unterliegt. Dass es eben nicht das Neue sein wird, was wir einfach anders machen müssen, was die Lösung bietet, sondern dass es immer wieder darum geht freizulegen, was verschüttet ist.

Es braucht also ein historisches Bewusstsein für feministische Theorie und Praxis?

Stutz: Ja, und für mich stellt sich da die Frage, wie es möglich wäre, diesen immerwährenden Wiederholungzwang aufzuheben. Etwa, indem wir darauf hinweisen, dass das, was die kritische Geschichtsschreibung überhaupt erst notwendig macht, was eine dazu zwingt, scheinbar immer wieder von vorne anzusetzen, nicht abgegolten ist. Das, wo etwa die autonome Frauenbewegung angesetzt hat: Das existiert immer noch! Es rückt gerade auch wieder stärker ins Bewusstsein, wie eine patriarchale Unterdrückung in einer kapitalistischen Weltordnung eben nicht aufgehoben werden konnte. Es würde darum gehen, diese historischen Erfahrungen zu bewahren und gleichzeitig an dem Begehren festzuhalten, nach dem Anderen, nach neuen Beziehungsformen, die in jeder revolutionären Bestrebung aufscheinen.

Ihr habt dem Thema Gebären schon mal eine ganze Ausgabe gewidmet. Vor kurzem wurden wieder zwei Ärztinnen, Bettina Gaber und Verena Weyer unter dem erst kürzlich reformierten Paragraf 219a zu Strafzahlungen je 2.000 Euro verurteilt, weil sie über Abbrüche informieren. Ist Gebären und Schwanger-Werden-Können für euch eine der zentralen weiblichen Erfahrungen? Und wenn ja, was bedeutet, dass für den feministischen Umgang mit Gleichheit und Differenz?

Pflücke: Es kann zumindest eine zentrale Erfahrung sein. Schwanger- und Mutterschaft ist eine krasse Veränderung deiner Person, deines Körpers, deines Lebens und bedeutet – meist – einen großen Einschnitt. Viele Frauen erleben das als eine Art Aufwachen, im Sinne von: Ach, der Feminismus ist echt immer noch notwendig! Gebären und Mutterschaft sind insofern zentral, als nicht nur weibliche, sondern eben auch die von der Dualität abweichenden Identitäten darauf verwiesen sind und daran gemessen werden. Sie ist aber nicht unbedingt dadurch zentral, dass man sie am eigenen Leib erleben muss. Was Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse ausmacht, ist einerseits diese Arbeitsteilung in produktive und reproduktive Tätigkeiten, die dualisiert weiblich beziehungsweise männlich zugewiesen werden. Begriffe wie Queer haben hier eine analytische Berechtigung, weil sie zeigen, wie die, die „deviante“ Sexualitäten und Geschlechter leben (wie das in Argentinien genannt wird, also nicht in der Familienlogik und Bevölkerungspolitik aufgehen), implizit an diesen Verhältnissen gemessen werden. Da wird wieder deutlich, dass trotz der Differenz auch hier wieder Gleichheit in der Unterdrückung besteht, weil etwa trans Frauen, die nicht gebären können, viel stärker auf den Bereich der Prostitution verwiesen werden. Sie werden zwar wegen ihrer „Devianz“ ausgeschlossen, aber darin spezifisch ausgebeutet.

Stutz: In diesem Verwiesensein auf die Reproduktionssphäre zeigt sich ganz konkret der universelle Charakter des Hasses auf Weiblichkeit, auch wenn sich die Ansatzpunkte und die Formen unterscheiden. Auch hier treffen sich differente Momente, aus denen sich im besten Fall gemeinsame politische Forderungen ergeben. Leider herrscht diese falsche Spaltung im Feminismus vor. Einerseits queer- und andererseits radikalfeministische Ansätze, die jeweils etwas absolut setzen und so die inneren Widersprüchlichkeiten weiblicher Subjektwerdung falsch auflösen. Entweder ist alles different und vielfältig, oder alles ist eins, weil eben nur „biologische“ Frauen auch Frauen sind. Daria Majewski schreibt in unserer neuen Ausgabe darüber, dass es darum gehen müsste, Artikulationsmöglichkeiten zu finden, für das, was einem in dem je spezifischen Prozess des Zur-Frau-Werdens genommen wurde. Und gerade in diesem unterschiedlichen und dennoch gemeinsamen Betrauern könnte dann die Möglichkeit zu Solidarität liegen. So könnten differente Erfahrungen formuliert werden, ohne das Gefühl auszulösen: Hier wird mir was abgesprochen. Darüber ins Gespräch zu kommen, wäre notwendig, um mit den Spaltungsprozessen umzugehen, die gerade im Feminismus stattfinden.

Hofft ihr, mit eurer Theorie als Praxis ein Teil der aktuell wieder stärker werdenden feministischen Bewegung zu sein, die Erfahrung wieder offensiver formuliert?

Pflücke: „Outside the box“ ist stets auf der Suche nach einer Möglichkeit der Kritik, die über die Vereinzelung hinausweist. Wir können uns zwar als ohnmächtig erfahren, aber auch versuchen, über diese Ohnmacht hinauszugehen und wirkmächtig zu werden oder wenigstens eine Sprache zu finden. Da ist schon die Zeitschrift selbst eine wahnsinnige Praxiserfahrung.

Stutz: Unsere kollektive Erarbeitung der Erkenntnissuche ist ja nie komplett losgelöst von der Wirklichkeit: Wir machen nicht nur die Zeitschrift, sondern auch Vortragsreisen, gemeinsame Diskussionen und sind organisiert in unterschiedlichen Streiks und Demobündnissen. In diesem Rausgehen mit dem, was wir geschaffen haben, verwirklicht sich feministische Produktion im emphatischen Sinn tatsächlich ziemlich gut.

Die Jubiläumsausgabe von “Outside the box“, "#7 Erfahrung" erscheint am 6: Juli (184 Seiten, 9 Euro) und kann hier bestellt werden. 

Interview: Kim Posster