Editorial Heft 8/22, Langfassung
»Facta sind immer lehrreicher als Declamationen.«
Christoph Martin Wieland: »Wie man liest« (1781)
1. In den letzten Wochen ist in Teilen der deutschen Linken der Streit um die Haltung von konkret zu Russland und zum Ukraine-Krieg eskaliert. Zeit, sich einen Überblick zu verschaffen.
Am 1. Juli veröffentlichte die konkret-Redaktion auf der Homepage der Zeitschrift eine »Richtigstellung«:
Im Internet kursiert eine Erklärung mit dem Titel »Warum wir nicht mehr für konkret schreiben«. Die 17 Unterzeichner/innen stellen sich darin als »Autorinnen und Autoren von konkret« vor, die wegen des vermeintlichen »Pro-Putin-Kurses« der Zeitschrift »die Zusammenarbeit« mit konkret »beenden« (»Süddeutsche Zeitung«).
Dazu stellt die konkret-Redaktion fest:
- Beenden kann man nur, was es gibt. Ein großer Teil der Unterzeichner/innen aber sind keine »Autorinnen und Autoren von konkret«; sie sind es bereits seit Jahren nicht mehr, und sie standen nicht in Gefahr, von konkret künftig um einen Beitrag gebeten zu werden. Die pompöse »Erklärung« ist daher eine Anmaßung, ein Fall von Etikettenschwindel und Hochstapelei.
- Sie ist zudem randvoll mit Halbwahrheiten und ganzen Lügen, strukturiert von einer »Logik«, der zufolge ein Nazi ist, wer sich gegen Hartz IV stellt, weil schließlich auch die NPD eine Anti-Hartz-IV-Kampagne gestartet hatte, und geprägt vom Willen zu einer politischen Hetze, die eine Antwort nicht verdient. Wer konkret in die Nachbarschaft von AfD und »Compact« rückt, mit dem lohnt keine Debatte – die konkret im übrigen natürlich auch bezogen auf den Ukraine-Krieg weiter führen wird.
In der Woche nach ihrer Veröffentlichung haben weitere ehemalige konkret-Autorinnen und –Autoren die »Erklärung« unterzeichnet, so dass die »Richtigstellung« präzisiert werden muss: Nicht lediglich »ein großer Teil« der Unterzeichner/innen, sondern ihre Mehrheit gehörte zum Zeitpunkt der Unterzeichnung längst nicht mehr zu den »Autorinnen und Autoren von konkret«. Einer ist darunter, dessen einziger in konkret veröffentlichter Text aus dem Jahr 2012 stammt; ein zweiter, der letztmals 2013 ein Stück für konkret geschrieben hat; ein dritter, dessen aktuellster Beitrag acht Jahre zurückliegt … Und solche Leute kündigen konkret jetzt ihre »Mitarbeit« auf? Was für eine Posse.
Unter den übrigen sind einige wenige, deren Boykottentscheidung konkret bedauert, zumal es sich bei ihnen um Leute handelt, von denen nicht zu vermuten war, dass ihre Fähigkeit, einen Text auch quellenkritisch zu lesen, sie ausgerechnet in diesem Fall im Stich lassen würde.
2. Bereits am 24. Februar, dem Tag, an dem der russische Einmarsch in die Ukraine begann, hatte die Redaktion eine Stellungnahme auf der konkret-Homepage veröffentlicht, in der es unter anderem hieß:
Weder hegt konkret Verständnis für Moskaus machtpolitische Ambitionen und den russischen Vorstoß, die »Wladimir-Iljitsch-Lenin-Ukraine« (Wladimir Putin) zu zerschlagen, noch ist von dieser Zeitschrift ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Weltordnung des Westens zu erwarten, der seine große Liebe zum Frieden immer dann entdeckt, wenn er selbst gerade keinen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen hat.
Die Gelegenheit aber, die der Titel des März-Heftes all denen zu bieten schien, die glaubten, konkret nun endlich die ewige Miesmacherei heimzahlen zu können, war offensichtlich so günstig, dass die Redaktion sich veranlasst sah, im Editorial der folgenden Ausgabe eine Klarstellung zu veröffentlichen:
Weil die zeitliche Kollision des letzten Hefttitels mit den Ereignissen zu Irritationen geführt hat, sei für alle, die an anderem als an politischer Pöbelei interessiert sind, hier die Chronologie der Produktion des März-Heftes festgehalten. Aus ihr ergibt sich, dass ahnungslos oder böswillig sein muss, wer diesen Titel für einen Kommentar zum russischen Einmarsch in die Ukraine gehalten hat: Redaktionsschluss des Heftes war am 11. Februar; am 15. Februar ging es in die Druckerei; am 21. Februar erkannte Russland die Separatisten-Republiken im Osten der Ukraine an – im Kontext einer Rede Wladimir Putins, die als Attacke auf die Eigenstaatlichkeit der Ukraine verstanden werden konnte; am 24. Februar begann der russische Einmarsch in die Ukraine; am Tag darauf, zehn Tage nach seiner Drucklegung, erschien konkret.
Was angesichts dieses Ablaufs zu diskutieren bleibt, ist, ob konkret mit seiner Darstellung richtig lag, die systematische Ausdehnung der Nato nach Osten sei eine Aggression gegen Russland (gewesen), die Wladimir Putin durch den Aufbau einer enormen Drohkulisse zum Zwecke der Durchsetzung unter anderem eigener Sicherheitsinteressen habe stoppen wollen. Zu fragen bleibt weiter, welche Fehleinschätzungen zu der Annahme geführt haben, Russland werde keinen Krieg gegen die Ukraine führen. Die Debatte dieser Fragen, bei denen es erfahrungsgemäß nicht bleiben wird, beginnt in diesem Heft. Sie wird fortgesetzt.
Mit Beiträgen unter anderem von Jörg Kronauer (zur Frage, »wieso die Fehleinschätzung bis zum Schluss sich halten konnte, es werde letztlich nicht zu einem russischen Überfall auf die Ukraine kommen«), Lars Quadfasel (gegen die »linke Kreml-Apologie«), JustIn Monday (gegen den Antiimperialismus), Florian Sendtner (über die Putin-Hitler-Gleichsetzung), Georg Fülberth (über den zweiten Imperialismus), Richard Schuberth (über die Militärexperten des Internets) starteten Debatte, Berichterstattung und Analyse zum Thema im gleichen Heft. Sie wurden im Folgenden mit Beiträgen von Tomasz Konicz (über »die Struktur des gegenwärtigen russischen Regimes«), Rolf Surmann (über den Verlust linker Urteilskraft im Zusammenhang des Ukraine-Kriegs), Felix Bartels (Entgegnung auf die Beiträge von Monday und Quadfasel), Lars Quadfasel (über das Debakel des russischen Militärs in der Ukraine) und Jörg Kronauer (über die Verschiebungen der internationalen Kräfteverhältnisse infolge des Krieges) fortgesetzt. In Heft 6/22 folgten Beiträge zum Thema von Kay Sokolowsky, Florian Sendtner, Alex Feuerherdt, Rolf Surmann und Richard Schuberth. Tomasz Konicz (über den Zusammenhang von Krieg und Nahrungskrise), Maxim Schewtschenko (über Putins imperialistische Interessen und den Chauvinismus der russischen KP), Jörg Kronauer (über die deutschen Interessen im Ukraine-Krieg) und Rolf Surmann (über die ukrainische Staatsbildung) setzten Diskussion und Analyse in Heft 7/22 fort. Auch im vorliegenden Heft finden sich Beiträge zur Debatte: von Peer Heinelt (über den imperialistischen Charakter des Ukraine-Kriegs und die analytischen Defizite der radikalen Linken) sowie von Stefan Ripplinger und Kay Sokolowsky (Antworten auf die Boykott-»Erklärung«). Die Diskussion wird im kommenden Heft fortgeführt – unter anderem mit einem Beitrag über die Entwicklung der russischen Außenpolitik in den vergangenen 20 Jahren und zur Frage, wie und wann aus dem um Annäherung an den Westen bemühten Wladimir Putin ein chauvinistischer Kriegsherr geworden ist.
Natürlich ist die Debatte über den Charakter des Ukraine-Kriegs und die Stellung der deutschen Linken zu ihm damit nicht abgeschlossen. konkret wird sie weiter führen (ein konkret-texte-Band zum Thema ist in Vorbereitung) und lädt dazu ein, sich an ihr zu beteiligen. Diese Einladung gilt auch jenen, die, irritiert durch allerlei Falschmeldungen, irrtümlich annehmen, eine kontroverse Diskussion sei in konkret nicht erwünscht.
3. Warum aber haben, obwohl sie dazu eingeladen waren, die Verfasser des Boykottaufrufs sich an der Diskussion in konkret nicht (mehr) beteiligt? Sie geben auf diese Frage zwei Antworten – eine unwahre und eine kindische.
Die unwahre: »Seiner (Lars Quadfasels) Ansicht nach gab es zuletzt immer weniger Platz für Kontroversen und Austausch. Für den März-Titel habe Quadfasel selbst noch einen Kritikbeitrag zum Thema geschrieben. Danach soll das nicht mehr möglich gewesen sein«, hieß es auf der Twitter-Seite des NDR-Medienmagazins »Zapp« im Kontext eines Interviews, das »Zapp« dort mit Quadfasel geführt hatte. konkret hat wegen dieser offensichtlichen Unwahrheit (bis einschließlich des Mai-Heftes hat Quadfasel Beiträge zum Ukraine-Krieg in konkret veröffentlicht) gegen den NDR eine Unterlassungserklärung erwirkt; der Sender hat die Passage aus dem Netz genommen.
Die kindische: In einem Interview mit Radio Dreyeckland erklärt Olaf Kistenmacher die Einstellung (auch) seiner Mitarbeit bei konkret so: »Der Entschluss, sich zurückzuziehen, war dann die Reaktion darauf, dass in der Mai-Ausgabe die beiden (JustIn Monday und Lars Quadfasel, Verfasser der, sagen wir: konkret-kritischen Beiträge im vorausgegangenen Heft, d. Red.) von anderen Autoren beschimpft wurden als Bellizisten und Imperialisten und, na ja, was man dann immer so auffährt.« Weil ihnen widersprochen wurde, mochten sie nicht mehr? Abgesehen davon, dass dieser Widerspruch in einer Tonlage erfolgte, die sich angenehm von der der ins Denunziatorische lappenden Anti-konkret-Polemiken unterschied – soll jetzt die Übernahme ihrer Position die Voraussetzung dafür sein, dass sie sich weiter an der Diskussion beteiligen? Die wäre bereits damit hinfällig, weil gegenstandslos geworden. Eine alberne Erwartung. Im übrigen hat niemand in konkret Lars Quadfasel oder JustIn Monday einen »Imperialisten« geschimpft. Das wäre nun wirklich ein paar Nummern zu groß gewesen.
4. Der konkret-Autor Bernhard Torsch hat den Abwerbungsversuch der Boykott-Initiatoren in einem längeren Facebook-Eintrag öffentlich gemacht und begründet, warum er ihm nicht folgt. Auszug:
Obwohl ich die Argumente zum Teil nachvollziehen kann und einige Kritikpunkte sogar teile, werde ich weder diesen Brief unterzeichnen noch konkret als Autor boykottieren. (…) Ich halte es seit jeher und bis heute für einen großen Denkfehler vieler Linker, in Russland eine Art Gegenpol zu den kapitalistischen westlichen Staaten und Staatenbündnissen zu sehen, wie das leider auch Hermann L. Gremliza in seinen letzten Kolumnen tat. Da war, vermute ich, der verzweifelte Wunsch, es möge eine weltpolitische Perspektive jenseits der kapitalistischen Weltvernichtung geben, Vater des falschen Gedankens. In der Realität ist Putins Russland ein knallhart kapitalistischer und autoritärer Staat, in dem echte Linke und echte Gewerkschafter auf noch weniger hoffen dürfen als im »Westen«. Gremliza und viele andere waren durch einen vollkommen berechtigten Hass auf die Verhältnisse in den klassischen kapitalistischen Zentren und deren anhaltende Verbrechen blind geworden für die traurige Wirklichkeit, dass es Schlimmeres gibt als das Schlimme und dass der Feind meines Feindes nicht zwangsläufig mein Freund sein muss.
Und trotzdem schließe ich mich dem Boykott von konkret nicht an. konkret lag nie nur »richtig« und nie nur »falsch«. Im Laufe seiner Geschichte hat das Magazin viele hervorragende und kluge Texte veröffentlicht und vielen Fehleinschätzungen und geradezu katastrophal falschen Positionen Raum geboten. Wie sollte es in einem Blatt, das Publikationsort für eine undogmatische Linke sein will, auch anders sein? Die guten konkret-Texte aus den vergangenen 50 Jahren sind auch heute noch lesenswert, die schlechten waren immerhin sprachlich besser als fast alles, was zur selben Zeit im Jammertal der deutschen Publizistik veröffentlicht wurde. Womit wir bei einem auch nicht unwichtigen Punkt angelangt wären: Würde ich nur dort publizieren, wo stets alle anderen Texte ganz meine eigene Meinung wiedergeben, würde ich nirgendwo veröffentlichen. Es gibt keine Publikation, in der nicht Gedanken zu lesen wären, die so gar nicht die meinen sind. Das aber macht das Wesen einer freien Presse aus. Sie unterscheidet sich von sektiererischen Eiferer-Veröffentlichungen durch eine gewisse Bandbreite an Meinungen. Das zuzulassen und diese anderen Meinungen wahrzunehmen macht klüger. Jakobinische Reinheit und ideologischer Einheitsbrei machen dümmer.
Ein kleiner Einwand sei gestattet: Die Erkenntnis, »dass der Feind meines Feindes nicht zwangsläufig mein Freund sein muss«, hat Hermann L. Gremliza selbst immer wieder thematisiert (etwa: »Der Feind meines Feindes: ein Feind«, Kolumne in konkret 1/02), und dass es »Schlimmeres als das Schlimme« gibt, hat selbstverständlich auch er gewusst; er hat es, in anderen Worten, vielfach formuliert, dabei aber stets festzuhalten versucht, was der Grund (nicht die Begründung) dieses »Schlimmeren« ist, woraus es also resultiert. Eben darum bemüht konkret sich auch bei der Beschäftigung mit dem Ukraine-Krieg.
5. Die Verfasser/innen der Boykott-»Erklärung« tun so, als wüssten sie nicht, dass es einen Unterschied gibt zwischen Verstehen und Verständnis haben, zwischen der Suche nach einer Erklärung und der Suche nach einer Rechtfertigung. Darin gründet ihre Lüge von der »Kreml-Apologie«, gar »Kriegspropaganda« auf seiten Russlands in konkret. Diese Lüge geht bis zum Zurechtfälschen von Zitaten (siehe dazu den Beitrag von Kay Sokolowsky in diesem Heft, S. 28), ja bis zu ihrer kompletten Erfindung. Sie »strukturiert«, wie Felix Bartels auf Facebook schrieb, die »Erklärung« der konkret-Boykotteure regelrecht:
In eigentlich jeder Paraphrase dieser Erklärung — das betrifft die Texte von Kay Sokolowsky wie auch die von Marco Tschirpke wie auch Inhaltswiedergaben der konkret-Hefte allgemein — lügen die Unterzeichner. Man kann dafür kein anderes Wort wählen, denn versehentlich passiert nicht, was sich durch einen ganzen Text zieht, ihn regelrecht strukturiert. Oder ist es doch bloß Unfähigkeit? Im Schreiben stark, im Lesen schwach? Es wäre nicht der erste Fall, aber ich glaube daran nicht. Wer immer vom Pferd fällt, kann nicht reiten. Wer immer zur rechten Seite vom Pferd fällt, hat ein ganz anderes Problem.
In seiner Antwort auf die Boykott-»Erklärung« (in diesem Heft, Seite 29) macht Stefan Ripplinger darauf aufmerksam, dass dort, wo ihre Verfasser/innen »den Bruch« behaupten, gar keiner ist: »Sämtliche Autorinnen und Autoren von konkret verurteilen den Angriffskrieg.« Dann stellt Ripplinger die Frage, wo denn die »rote Linie« tatsächlich verläuft.
Zum Schluss auch das noch: Die konkret-Boykotteure haben die Homepage, auf der sie ihre »Erklärung« veröffentlichten (kontrast-mittel.org), unter ein Motto gestellt: »Kontrastmittel sind Arzneimittel, die nicht der Heilung oder Linderung von Krankheiten dienen, sondern bei der Krankheitserkennung helfen.« Die metaphorische Verwendung des Begriffs »Krankheit« zur Etikettierung missliebiger (politischer) Meinungen, mithin die Pathologisierung des politischen Gegners, ist faschistische Redeweise. Bei aller Abneigung gegen »Bescheidwisserei« (Quadfasel) - wenigstens das sollten Verfasser/innen wie Unterzeichner/innen der »Erklärung« wissen.