Millionäre und Buchverkäuferinnen

Nicolai Hagedorn über die Aktion #allesdichtmachen

Ende April verkündete der Schauspieler Maxim Mehmet in einem Video auf der Webseite allesdichtmachen.de, er habe Frau und Tochter »seit einem Jahr nicht mehr gesehen ... Die Wohnung haben wir uns aufgeteilt«. Das sei nötig gewesen, um zu verhindern, dass die Kinder miteinander spielen. Er sei für Lockdown und Corona-Maßnahmen, »damit wir wieder eine Familie sein können, also erst nach der Pandemie … also in drei, fünf oder zehn Jahren. Aber selbst wenn es zwanzig Jahre dauert, wir können warten.« Neben Mehmet ließen es sich 51 weitere Kollegen nicht nehmen, in ähnlich herablassendem Tonfall diejenigen, die seit dem Beginn der Pandemie bemüht sind, Infektionsketten zu unterbrechen und damit Krankheits- und Todesopfer zu vermeiden, als schafhafte Idioten hinzustellen. Tenor der meisten Kurzvideos war das bekannte Lamento über den Lockdown, den man nicht mehr aushalten könne, sowie über die vermeintlich übertriebenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und die angebliche Abschaffung der Meinungsfreiheit.

Bald wurde, unter anderem im »Tagesspiegel«, offengelegt, dass es sich bei #allesdichtmachen um ein Projekt handelte, das hauptsächlich von dem Fernsehdoktor Jan Josef Liefers, dem Bullenpropaganda-Regisseur Dietrich Brüggemann (»Tatort«) und Volker Bruch, dem Hauptdarsteller des geschichtsklitternden Machwerks »Unsere Mütter, unsere Väter«, initiiert worden war, offenbar unter Mitwirkung bekannter Figuren der sogenannten Querdenkerszene sowie des Laiendarstellers Moritz Bleibtreu. Bruch hatte konsequenterweise bereits einen Mitgliedsantrag bei der Querdenkerpartei Die Basis gestellt, wie die Nachrichtenplattform »Netzpolitik.org« meldete.

Kritik an der Aktion kam unter anderem von der Essener Notfallärztin und Bloggerin Carola Holzner, die mitteilte, angesichts der Zustände in den Krankenhäusern hätten in der Debatte »zynische Diskussionen, Sarkasmus und Ironie nichts zu suchen«. Auch Schauspielkollegen übten teils harsche Kritik an den Videos, so dass wenige Tage nach deren Veröffentlichung etwa die Hälfte der Beteiligten ihre Beiträge wieder zurückzog.

Der standhafte Liefers hatte in seinem Filmchen den Medien für die einmütige Zustimmung zu den Regierungsmaßnahmen »gedankt«, denn: »Verantwortungslosen, menschenverachtenden Ärzten und Wissenschaftlern, die zu anderen Schlüssen kommen als die beratenden Experten unserer Regierung und die sich mit Professuren an weltberühmten Universitäten und Nobelpreisen schmücken …, dürfen wir keine Bühne geben. Schließlich wissen nur ganz wenige Spezialisten, was wirklich gut für uns ist.« Sieht man einmal davon ab, dass der Mann offenbar ein gelungenes Skript nicht von einer Siebte-Klasse-Deutsch-Hausaufgabe unterscheiden kann, liegt das erste Missverständnis seiner Argumentation in der Annahme, Meinungsfreiheit bedeute, dass jede Meinungsäußerung, egal, wie ignorant oder irrelevant sie ist, von Wissenschaft und Öffentlichkeit ernst genommen werden müsste. Brüggemann teilte indes via Deutschlandfunk mit, schmerzhafte Kritik sei »in einer Situation wie dieser« nötig. »Wenn man lieb und brav ist, bringt es nichts.« Seine eigenen Kritiker erklärte er allerdings kurzerhand zu einem »Lynchmob«, und der selbsternannte Meinungsfreiheitskämpfer Liefers offenbarte der »Berliner Zeitung«, Widerspruch zu seinem Treiben empfinde er als Strafe. Da kann man nur noch staunen.

Was sich in der ganzen Veranstaltung neben einem ins Lächerliche übersteigerten Narzissmus eigentlich zeigt, ist eine eher lahme Spielart dessen, was man das Sahra-Wagenknecht-Syndrom nennen könnte: Stinkreiche Fernsehkasper spielen sich mit Phantasie-Analysen, Verschwörungs- und Querfrontquark als »Staatskritiker« und Retter der Enterbten auf.

Der selbst seit langem an einer Querfront werkelnde und eines übersteigerten Narzissmus nicht unverdächtige Dauertalkshowgast Wagenknecht ließ via Twitter denn auch zügig wissen: »Eine klasse Playlist, in der bekannte Schauspieler/innen ihre Empörung über die aktuelle #Corona-Politik wunderbar ironisch zum Ausdruck bringen.«

Funktional stehen #allesdichtmachen und Querdenken ebenso wie Wagenknechts Feldzüge gegen eine von ihr selbst erfundene »Lifestyle-Linke« ganz im Dienst des bürgerlichen Staates, dessen Aufgabe bekanntlich unter anderem darin besteht, jede Organisation gegen das Kapital zu verhindern. Der ganzen Bagage fiele es im Traum nicht ein, die Mehrwertproduzenten dazu aufzurufen, sich zu organisieren, um den Kapitalisten die Produktionsmittel streitig zu machen und als Klasse politisch handlungsfähig zu werden. Im Gegenteil will die Schauspielerkampagne genau in dem Moment zu einem »Widerstand« gegen den Staat anregen, da dieser sich angesichts Zehntausender Toter ausnahmsweise einmal genötigt sieht, eine mögliche Gesundheitsgefährdung der Bevölkerung nicht völlig zu ignorieren beziehungsweise der Gesundheit kurzzeitig Vorrang gegenüber Kapitalinteressen einzuräumen. Der ganze sich als angeblich »staatskritisch« aufblasende Wagenknecht-Querdenker-Komplex mit all seinen Fanclubs, von den »Nachdenkseiten« bis zu »Compact«, steht gemeinsam mit den konservativen und liberalen Medien, der Polizei und der Regierung durchaus auf der gleichen Seite der Barrikade. Was juckt es den ideellen Gesamtkapitalisten, wenn irgendwelche Bullendarsteller, sogenannte »Alternativmedien« oder eine »Linkspolitikerin« das fordern, was er selbst ohnehin am liebsten täte, nämlich so schnell wie möglich die Absatzmärkte für VW, Nestlé und die Lufthansa vollständig wiederherzustellen?

Der einzige politische Effekt, den diese Sperenzchen zeitigen, ist der, dass alle, die sich ernsthaft um progressive und inklusive Organisierung von Arbeiterinnen und Prekären zur Überwindung von Wertgesetz und Klassenherrschaft bemühen, nicht nur gegen die Neue Rechte und den sowieso beständig vor sich hin brummenden medialen und politischen antisozialistischen Apparat der Bourgeoisie anzukämpfen haben, sondern es neuerdings noch alle naselang mit wehleidigen Millionären und Buchverkäuferinnen zu tun bekommen, die ihre Reichweite nutzen, um sich mit Besserwisserei in Diskurse »einzubringen«, die sie, sollte zufällig in ihrem Beisein einmal ernsthaft und valide dazu gesprochen werden, nach ungefähr 30 Sekunden gelangweilt in Richtung Golfplatz, Lieblings-Italiener oder der nächsten Gauweiler-Party verlassen würden. Dass sie genau das derzeit nicht können, man ahnt es, ist wohl der eigentliche Antrieb der ganzen Farce.

Nicolai Hagedorn schrieb in konkret 4/21 über das Buch »Gehorsam macht frei«